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Roderich Stintzing Geschichte der populären Literatur des römisch-kanonischen Rechts in Deutschland am Ende des fünfzehnten und im Anfang des sechszehnten Jahrhunderts :: Elektronische Edition

Digitalisierung von: Roderich Stintzing, Geschichte der populären Literatur des römisch-kanonischen Rechts in Deutschland am Ende des fünfzehnten und im Anfang des sechszehnten Jahrhunderts, Leipzig 1867

Seit langer Zeit habe ich es als ein Bedürfnis betrachtet, daß die Geschichte der Rezeption des Römischen Rechts durch eine Darstellung der populären Literatur ergänzt werde. Indem ich es aber unternahm, diesem Bedürfniß nach meinen Kräften abzuhelfen, trat mir die große Schwierigkeit des Unternehmens wiederholt so überwältigend entgegen, daß ich auf die begonnene Arbeit fast verzichten zu müssen glaubte. Wenn sie nun dennoch jetzt abgeschlossen vorliegt, und, wie ich hoffe, Nutzen bringt, so ist es der aufmunternden Theilnahme sachkundiger Freunde — vor Allen Stobbe's — zu danken, deren Interesse an dem begonnenen Werke mich auch über die von Savigny vor vierzig Jahren ausgesprochene und, trotz seiner Leistungen, wohl jetzt noch nicht ganz überwundene Thatsache leicht hinwegsehen ließ, daß literärgeschichtliche Untersuchungen „im Ganzen nur wenig Ansehen genießen." Wer sich ihnen widmet, der muß sich sagen, daß er der Sache und seiner Liebe zu ihr ein Opfer bringt.

Wenn ich mein Buch eine Geschichte nenne, so wolle man an dieses Wort keine zu großen Ansprüche knüpfen. Ich bin allerdings bemüht gewesen, die historische Entwicklung im Ganzen und im Einzelnen zur Anschauung zu bringen: aber daß nicht allen Anforderungen, die wir an eine Geschichte stellen, genügt worden ist, weiß ich sehr wohl. Es wird in [Seite VI] meinem Buche an Irrthümern und Lücken nicht fehlen. Habe ich selbst deren doch schon während des Drucks manche gefunden, und in den Nachträgen zu verbessern gesucht; und ich darf wohl bitten, daß diese Nachträge bei der Beurtheilung nicht übersehen werden möchten. Mehr und größere Mängel werden Andere finden. Allein wer durch eigene Studien in diesen Dingen zu einem Urtheile berechtigt ist, dessen Urtheil wird auch ein nachsichtiges sein. Denn er kennt die große Schwierigkeit, ein Buch, wie das vorliegende, aus dem Rohen herauszuarbeiten; er weiß, wie oft selbst dem redlichsten Fleiße eine Thatsache entgeht, während uns andere der glückliche Zufall zur Kenntniß bringt; wie überhaupt bei dem so sehr zerstreuten und entlegenen Material, das hier zusammengetragen werden mußte, die Vollständigkeit dem Einzelnen zu erreichen kaum möglich ist.

Ich habe indeß meiner Aufgabe nicht durch Zusammenstellung des Materials zu genügen geglaubt, sondern versucht, es in Gedanken zu einem Ganzen zu verbinden. Vielleicht wird manche Combination Widerspruch und Tadel erfahren; allein ich habe das Wagniß nicht gescheut, weil ich glaube, daß es für die Wissenschaft förderlicher ist, eine verständige Combination, selbst auf die Gefahr des Irrthums hin, zu versuchen, als ihr schüchtern auszuweichen in der Furcht vor unfreundlicher Anfechtung.

Wohl hätte manche Spezialuntersuchung weiter geführt werden können. Allein ich mußte des „sunt certi denique finos" mit Rücksicht auf das Ganze eingedenk bleiben, und mir sagen, daß es nützlicher sei, dieses einmal zum Abschluß zu bringen, als ihn ins Unbestimmte zu verzögern, bis für alle einzelnen Fragen das Material erschöpfend zusammengebracht wäre. So soll mir genügen, wenn ich für manche Untersuchung nur den Grund gelegt, für andere einem bessern Forscher die Anregung gegeben habe.

Man wird vielleicht bei den einzelnen besprochenen Schriften die Verzeichnisse von Handschriften vermissen. Warum ich sie für meinen Hauptzweck [Seite VII]nicht als nothwendig betrachten konnte, habe ich in der Einleitung erörtert. Gern würde ich sie indeß als bibliographische Beigabe hinzugefügt haben, wenn ich mich nicht überzeugt hätte, wie unsicher bei dieser wenig beachteten Literatur die Angaben in den Handschriften-Katalogen und anderen Hülfsmitteln vielfach sind. Wären alle Kataloge mit der Sorgfalt und juristischen Sachkunde gearbeitet, wie der von Steffenhagen, so stünde es besser; allein selbst hier blieben mir bisweilen Zweifel über die Identität einer Schrift. Ohne persönliche Prüfung wagte ich daher nicht, solche Verzeichnisse aufzustellen; ich fürchtete, dadurch, bei geringem Nutzen, zu vielen Irrthümern Veranlassung zu geben; die persönliche Prüfung aber war in den meisten Fällen nicht ausführbar.

Ist es mir doch nicht einmal möglich gewesen, alle Ausgaben, die ich aufzähle, zu Gesicht zu bekommen. Hier halfen mir jedoch die Werke von Panzer und Hain genügend aus. Namentlich das vortreffliche Repertorium bibliographicum von Hain ist mir von größtem Nutzen gewesen, und je mehr ich mich desselben bediente, desto mehr lernte ich seine Genauigkeit und Zuverlässigkeit schätzen. Es ist in hohem Grade zu bedauern, daß dieses ausgezeichnete Werk von dem Verfasser nicht ganz vollendet werden konnte.

So viel wie möglich habe ich indeß die Ausgaben selber durchgesehen, wobei mir namentlich der wunderbare Reichthum der Münchener Hof- und Staats-Bibliothek, sowie die Schätze der Bamberger und der hiesigen Bibliothek zu statten kamen. Nicht genug kann ich die große Bereitwilligkeit rühmen, mit welcher man meinen sehr umfänglichen Wünschen in München, Bamberg, Erlangen und manchen andern Orten stets entsprach, und die ungewöhnliche Liberalität, mit welcher mir die Benutzung von Inkunabeln und Handschriften nach meinem Bedürfnis, auch von den entfernten Bibliotheken, namentlich von München und Bamberg, gestattet wurde.[Seite VIII]

Endlich sei allen Freunden, nah und fern, welche mich mit Rath und That unterstützten, und das langsame Werden dieses Buchs mit nachsichtiger Theilnahme begleiteten, mein herzlicher Dank gesagt. Möchte ihnen das fertige Werk, trotz all seiner Mängel, Freude bereiten, so daß sie sich des Antheils, den sie daran haben, gerne erinnern.

Ich kann aber dieses Vorwort nicht schließen, ohne der großen Bereitwilligkeit und Uneigennützigkeit rühmend zu gedenken, mit welcher der allgemein verehrte Herr Verleger die Publikation dieses Buches unternommen und gefördert hat, indem er jedem meiner Wünsche freundlichst entgegenkam.

Erlangen, den 3. Februar 1867.

[Seite IX Inhaltsverzeichnis]
[Seite X Inhaltsverzeichnis]
[Seite XI Inhaltsverzeichnis]
[Seite XII Inhaltsverzeichnis]
[Seite XIII Inhaltsverzeichnis]
[Seite XIV]
[Seite XV leer]
[Seite XVI leer]
[Seite XVII]

Wir sind gewohnt, bei dem Beschauen eines mächtigen Bauwerks den Künstler zu rühmen, der es erdachte, und des Bauherrn zu gedenken, der seine Ausführung befahl; aber der wackeren Meister und Gesellen zu vergessen, deren treuem Fleiß und kunstfertiger Hand jeder einzelne Stein seine Form und seinen Platz, und schließlich das ganze Werk seinen schönen und kräftigen Körper dankt, mit dem es Sturm und Wetter Trotz bietet. So pflegen wir auch bei der Betrachtung großer geschichtlicher Ereignisse die Männer zu nennen, welche durch die Gunst der Verhältnisse und eigene Kraft an die Spitze der Vorgänge gestellt waren, und nicht von denen zu reden, welche Das, was wirklich geschah, thatsächlich vollbrachten. Und doch ist nicht zu verkennen, daß, wo es sich nicht bloß um eine Action im äußeren Leben des Staats, dessen wohlgefügter Mechanismus dem von oben gegebenen Druck bis in die entferntesten Glieder fast willenlos gehorcht, sondern um den langsamen Prozeß einer Umgestaltung des Geisteslebens handelt, die große Zahl der Männer nicht minder Beachtung verdient, welche den gegebenen Anstoß in weitere Kreise übertrugen, und in freier Thätigkeit den Inhalt der neuen Gedanken zum Eigenthum des Volks machten.

So hat man von jeher bei der Darstellung der merkwürdigen Umgestaltung unseres deutschen Kulturlebens, welche in der Einbürgerung des römisch-kanonischen Rechts bestand, den Einfluß der gelehrten Doctoren als die erste und wichtigste Ursache hervorgehoben. Und nicht mit Unrecht geht man von dieser Thatsache aus; denn wir wissen, daß nicht nur fremde Rechtsgelehrten bei uns eindrangen, sondern, daß unsere Landsleute selbst seit dem zwölften Jahrhundert über die Alpen zogen, um auf den italienischen Hochschulen die fremden Rechte zu lernen, und mit der Würde akademischer Grade geschmückt und mit dem Nimbus transalpiner Gelehrsamkeit umgeben, [Seite XVIII] in ihr Vaterland heimkehrten, um hier die wohlgewonnenen Schätze des Wissens zu verwerthen. Sind auch die Spuren ihres Einflusses in den ersten Jahrhunderten nach dem Aufblühen Bologna's im Einzelnen nur spärlich nachzuweisenp.18.1; so ist es doch ihnen zuzuschreiben, daß in die deutsche Nation die die fast verschollene Kunde dringt von einer erhabenen, an die kaiserliche Gewalt geknüpften Rechtsautorität und von uralten Gesetzen der ewigen Roma, die eine Fundgrube der tiefsten Weisheit seien. So erzeugte sich im Bewußtsein der Nation das erste Fundament für die Geltung des fremden Rechts: das Wissen von seinem Dasein, die Ahnung von seinem Werthe und der Glaube an seine Gültigkeit für das ganze Reich.

Allein eine tiefer eingehende Betrachtung der Geschichte hat es längst erkannt, daß die Rechtsgelehrten nicht die wichtigsten Triebfedern in der folgenden Umgestaltung des Rechtszustandes, sondern nur mitwirkende, kräftige Werkzeuge einer viel breiter angelegten historischen Entwickelung waren. Es handelte sich nicht bloß darum, einen neuen Gedanken auszusprechen, zu entwickeln und empfänglichen Geistern einzupflanzen; sondern es kam darauf an, überlieferte tatsächliche Zustände durch fortgesetzte praktische Thätigkeit in einem weiten räumlichen Gebiete umzugestalten: und diese Aufgabe war eine so gewaltige, daß zu ihrer Lösung die Kraft der Doctoren allein niemals ausgereicht haben würde. Um sie zu vollbringen, mußte der Geist der Nation in den weiten Schichten, welche mit dem Rechtsleben und seiner Pflege in stetiger Berührung standen, zum Verständniß der Gedanken des römischen Rechts herangezogen werden. Zur Vollendung dieser Entwickelung bedurfte es der Jahrhunderte; und erst jetzt dürfen wir sie als abgeschlossen betrachten, da wir sagen können, daß uns die römischen Rechtsgedanken nicht mehr fremde sind, sondern unserm heutigen Bewußtsein vielfach näher stehen, als die Anschauungen unseres alten heimischen Rechts: sie sind ein nicht mehr auszuscheidender Bestandtheil unserer Kultur geworden.

Begonnen aber hat dieser Entwickelungsgang in derselben Periode, welche die übrigen Keime unserer modernen Kultur birgt; und seine Anfänge, wie sein weiterer Verlauf ähneln denjenigen, welche wir bei der Aufnahme des klassischen Alterthums in unsere allgemeine Bildung beobachten können. Auch seine ursprünglich fremden Überlieferungen sind uns in [Seite XIX] Fleisch und Blut übergegangen, so daß wir sie auszuscheiden nicht mehr im Stande waren. Nicht aber die tiefe Gelehrsamkeit der klassischen Philologen allein hat diese Erziehung vollbracht, welche sich auf die breitesten Kreise erstrecken mußte. Ihr Grund ward dadurch gelegt, daß unsere wackern Pädagogen seit dem Schlusse des fünfzehnten Jahrhunderts und mit ihnen unsere Reuchlin, Melanchthon und Luther ihre reformatorische Thätigkeit vor Allem den unteren Schichten, der Umgestaltung des Schulwesens zuwendeten. Für lange Zeit war dadurch der deutschen Philologie die Richtung gegeben; und während in Frankreich das Studium des klassischen Alterthums bis zu den Leistungen eines Scaliger, Casaubonus und Salmasius emporstieg, sehen wir das Bestreben unserer deutschen Gelehrten im Ganzen auf die Hebung der lateinischen Schulen gerichtet — aber auch beschränkt. Ein reines und tiefes Verständniß des klassischen Alterthums konnte dabei allerdings nicht gedeihen. Allein, was man von ihm besaß, Das ward um so sicherer und inniger mit dem Geistesleben des deutschen Volks verwoben. Lange Zeit verging unter dem Drucke kirchlich-politischer Umwälzungen und dem Schrecken des großen Krieges mit seinen fast unheilbaren Nachwirkungen, bis unsere Altertumswissenschaft einen höheren Aufschwung nehmen konnte. Als aber endlich für sie die besseren Tage anbrachen, da fand sie in unserem Volke den Schatz des Wissens treu bewahrt und den Boden bereitet, der nun in weiten Kreisen den edleren Saamen höherer Bildung fruchtbringend in sich aufzunehmen vermochte.

Aehnlich ist der Gang der Rezeption des römischen Rechts gewesen. Zwar zog die gelehrte Jurisprudenz in fremden und deutschen Vertretern aus den wälschen Landen zu uns herüber; aber mit ihrer erschöpften Kraft vermochte sie eine wissenschaftliche Blüthe in Deutschland nicht zu erzeugen. Das fünfzehnte und sechszehnte Jahrhundert weist bei uns außer Zasius kaum einen Mann auf, dessen gelehrte Wirksamkeit das Mittelmaaß überstiege : und auch dieser — wie wenig reicht seine wissenschaftliche Bedeutung an die Leistungen eines Alciat und Budeus heran, wie weit ist sie von der Größe eines Donellus und Cujaz entfernt. Das Verdienst unserer gelehrten Juristen liegt darin, daß sie als Lehrer Derjenigen wirkten, welchen der Beruf zufiel, das römische Recht im praktischen Leben zu vertreten und einzubürgern. Mit dieser Aufgabe sehen wir sie beschäftigt, dazu von einem Uebermaaß praktischer Geschäfte ihre Thätigkeit in Anspruch genommen, und nur ein geringer Theil ihrer Kraft ist den gelehrten Untersuchungen zugewendet. [Seite XXVII]

Allein unsere gelehrten Doctoren sind es nicht gewesen, welche auf jenes Lebensgebiet und jene Kreise unmittelbar einwirkten, in welchen das breite und feste Fundament für die praktische Geltung des römischen Rechts gelegt werden mußte. Denn diese umfassen das äußerlich untergeordnete und ausgedehnte Gebiet des kleinen bürgerlichen Lebens, welches die Gelehrten nicht beherrschten, zu welchem sie sogar nur den geringsten Zugang hatten.

Könnten wir die fast unglaublich klingenden Angaben über die Frequenz der italienischen Rechtsschulen auch nur annähernd für Deutschland in Rechnung bringen, und annehmen, daß alle Scholaren mit den summi honores geschmückt in die Heimath zurückkehrten, so hätten wir allerdings ein gewaltiges Heer von Doctoren des römischen Rechts vor uns. Allein die Unzulässigkeit dieser Berechnung liegt auf der Hand. Es strömten in Italien die Scholaren aus allen Nationen zusammen; Italien selbst stellte das größeste Contingent. und die Deutschen nur einen kleinen Bruchtheil der Gesammtheit. Denn in der That mußten besondere Vorzüge des Glückes zusammentreffen, um einem Deutschen den jahrelangen Aufenthalt in Italien zu ermöglichen; Zeit und Mittel dafür standen begreiflich nur einem verhältnißmäßig kleinen Kreise zur Verfügung. Und von dieser so geminderten Anzahl müssen wir wiederum einen nicht unerheblichen Bruchtheil in Abzug bringen, wenn wir die Vertretung des eigentlich römischen Rechts bemessen wollen. Denn die bei weitem meisten deutschen Scholaren gehörten dem Klerus an, und waren daher durch ihren Stand nicht blos vorzugsweise auf das kanonische Recht hingewiesen, sondern durch ausdrücklichen Befehl des Papstesp.20.1 vom Studium des römischen Rechts abgelenkt.

Die Gründung der deutschen Universitäten am Ende des vierzehnten und im Laufe des fünfzehnten Jahrhunderts hat auf diese Verhältnisse nur langsam ändernd eingewirkt. Ward durch sie auch ein großer Theil der äußerlichen Hindernisse hinweggeräumt, welche bisher den akademischen Studien im Wege gestanden hatten, so boten doch die heimischen Rechtsfakultäten lange Zeit gerade diejenigen Hülfsmittel nur sehr mangelhaft dar, welche für die Erlernung des römischen Rechts erforderlich waren. Denn bis gegen das Ende des fünfzehnten Jahrhunderts war die Vertretung dieser [Seite XXI] Disziplin auf den deutschen Universitäten nur eine sehr dürftige und vorübergehende ; und wo man den Anfang mit ihr machte, da geschah es unter dem Drange des Bedürfnisses meist durch Berufung ausländischer Doctoren, da man nur in seltenen Fällen einen Deutschen dazu geeignet fand.p.21.1

Rechnen wir hinzu, daß bezüglich des Klerus die alten Verhältnisse bestanden, indem seinen Gliedern das Studium des römischen Rechts verwehrt blieb, wo nicht Dispensationen und eine mildere Präzis das Verbot des Honorius abschwächten; und erinnern wir uns endlich, daß es unter Denen, welche die Hörsäle Italiens und Deutschlands füllten, nur den Auserwählten gelang, bis zu den summi honores durchzudringen: so ergiebt sich das Resultat, daß die Zahl der Doctores Legum in Deutschland bis in die Reformationszeit hinein eine verhältnismäßig geringe bleiben mußte. Wir begegnen ihnen in hervorragenden Stellungen als Räthe der Kaiser und Fürsten, als Schiedsrichter in Rechtssachen der hohen Herren und als Consulenten der bedeutendsten Reichsstädte.p.21.2 Allein die vornehme Stellung, welche sie in Anspruch nahmen und deswegen unangefochten behaupten konnten, weil ihre Zahl eine beschränkte war, vertrug sich mit Dienstleistungen in den unteren Sphären der Rechtspflege nicht; und nur in den höchsten Gerichten finden wir sie schon während des fünfzehnten Jahrhunderts hier und dort in Mehrzahl als ständige Beisitzer verwendet.

Daß von diesen Spitzen herab ein sehr bedeutender Einfluß auf die untere Rechtspflege geübt wurde, ist nicht zu verkennen.p.21.3 Denn wenn einmal die höheren und höchsten Gerichte mit gelehrten Juristen besetzt, und die Principien des römischen Rechts als Entscheidungsnormen proclamirt waren, so konnte sich die Praxis in den Untergerichten dem ihr von oben gewiesenen Gange auf die Länge nicht entziehen, wenn nicht ihre ganze Thätigkeit zu einer bloßen Beschwerde für die Parteien werden sollte.

Allein das in dieser Richtung entscheidende Ereignis ist erst am Schlusse des fünfzehnten Jahrhunderts mit der Gründung des Reichskammergerichts eingetreten. Längst vorher aber drängte sich das römische Recht in die untere Praxis ein. Man darf behaupten, daß im Laufe des fünfzehnten [Seite XXII] Jahrhunderts das Verlangen nach seiner Anwendung der Verbreitung der gelehrten Kenntniß vorauseilte; daß sich im bürgerlichen Rechtsleben selber und in den unteren Schichten der Rechtspflege eine Entwicklung vollzog, welche jenem von oben her geübten Einflüsse entgegenkam: und diese Entwickelung, die Einbürgerung des römischen Rechts auf diesem breiten Boden, ist ohne Zweifel das wichtigste Moment in der Geschichte seiner Rezeption, weil erst durch sie die von den Gelehrten verkündete und in thesi anerkannte Gültigkeit desselben zu einer realen Thatsache wurde, welche trotz aller Gegenwirkungen nicht mehr rückgängig zu machen war.

Und gerade diesem Gebiete, dem kleinen bürgerlichen Rechtsleben, der Pflege des Rechts in den Untergerichten, blieben die Doctoren fern. Denn nicht nur, daß ihre Zahl viel zu gering, ihre Ansprüche dagegen viel zu groß waren, als daß man daran hätte denken können, mit ihnen die Bänke der Stadt- und Landgerichte zu füllen, oder sie unter den Notaren und Fürsprechern zu suchen: es trifft sie auch der Vorwurf, daß sie sich, durch die Vorzüge ihrer Stellung verwöhnt, zu vornehm hielten, um sich der Bedürfnisse der unteren Volksschichten anzunehmen. Selbst ein Zasius, in welchem doch noch eine volkstümliche Ader schlug, meint, daß es sich für einen echten Doctor nicht zieme „sordibus fororum seu consistorium volutari".p.22.1 Wäre in ihnen der Geist eines Luther und Melanchtho gewesen, so hätten sie einen Theil ihrer Kraft unmittelbar auf die Hebung der unteren Rechtspflege gewendet, und an die Umgestaltung die kräftige Hand gelegt, anstatt sich von den Schäden, welche Unverstand und Rabulisterei hier stifteten, mit vornehmem Widerwillen abzuwenden.

Die Wirksamkeit in die Tiefe und Breite, welche bei der humanistischen Bildung unter dem leitenden Einflüsse hervorragender Männer stattfand, ist hier einer minder begabten Klasse zugefallen. Es ist die wenig beachtete und doch so große und einflußreiche Klasse von Männern, welche die Vermittelung bilden zwischen den gelehrten Doctoren und den volkstümlichen Schöffen, zwischen der gelehrten Jurisprudenz und dem Wissen des Rechts aus eigener Erfahrung. Es ist die Klasse der Halbgelehrten und Halbwissenden, deren sich zu allen Zeiten die Geschichte zu bedienen pflegt, als des unentbehrlichen Kanals, durch welchen die Schätze höherer Geistesbildung in die unteren Schichten des Volks strömen, um [Seite XXIII] hier ihren umgestaltenden Einfluß zu vollenden. Auch der Reform unserer Schulbildung hat es an Männern dieser Art als Mitarbeitern nicht gefehlt; aber sie wirkten dem weise leitenden Einflüsse bedeutenderer Geister folgend, während die Einbürgerung des römischen Rechts gerade dem Wirken der Mittelmäßigkeit ohne höhere Leitung überlassen blieb. So ward das römische Recht, nicht wenig verstümmelt und verunstaltet, von plumpen Händen in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts unter das Volk gebracht, um vielfach Aergerniß zu geben und dennoch sein dauerndes Besitzthum zu werden, dessen vollen Werth erst eine spätere Zeit herausbilden sollte. Es bedarf der Erklärung, wie es möglich gewesen, daß sich dieser Prozeß im Zeitalter der Reformation vollzog. Denn auf den ersten Blick scheint zwischen der geistigen Bewegung, welche damals Deutschland erfüllte, und der Aufnahme des römischen Rechts vielmehr ein Widerspruch, als Verwandtschaft zu bestehen. Hat es doch mit dem religiösen Bedürfnisse der Zeit keine Gemeinschaft, und dem erwachenden nationalen Bewußtsein scheint seine Aufnahme zu widersprechen. Und dennoch muß die Anziehungskraft größer gewesen sein, als der Gegensatz, da sich sonst die Rezeption nicht in einer Periode vollzogen haben würde, in welcher das geistige Bedürfniß des Volks eine größere Kraft als jemals entfaltete. Siegreich überwand es die überlieferten Autoritäten, und würde sicherlich nicht auf dem Gebiete des Rechts widerwillig einer neuen Autorität unterlegen sein, wenn ihre Herrschaft dem innersten Triebe widersprochen hätte.

Das kräftigste Element der Bewegung in der Reformationszeit war nächst dem religiösen das volksthümliche. Die unteren Schichten der Gesellschaft, die bürgerlichen Kreise, sehen wir von gewaltigem Ringen nach geistiger, sittlicher und sozialer Hebung ergriffen, und auf dasselbe Ziel die reformatorische Arbeit der hervorragenden Männer gerichtet. In der That wird uns nun vielfach von einer „nationalen Opposition" gegen das römische Recht gesprochen, so daß man meinen könnte, sie stehe mit jener Bewegung im engsten Zusammenhang. Allein eine genauere Betrachtung zeigt, daß diese Opposition von anderen Kreisen ausging und eine andere Bedeutung hatte.p.22.1

Wenn die bairischen und württembergischen Stände sich über die gelehrten Juristen beklagen, so ist ihre Beschwerde vorzugsweise gegen das [Seite XXIIII] Eindringen der Fremden nicht blos aus den wälschen, sondern auch aus anderen deutschen Ländern gerichtet, und nicht durch verletztes deutsches Nationalgefühl, sondern durch die besorgte Schädigung ständischer Privilegien motivirt.p.24.1. Eine mehr volksthümliche Opposition tritt allerdings im zweiten und dritten Jahrzehnt des sechszehnten Jahrhunderts hervor. Huttens scharfe Angriffe gegen die Rechtsgelehrtenp.24.2, das unter dem Namen der Reformation Friedrichs III. bekannte Manifest aus dem Bauernkriege,p.24.3 die berühmten Flugblätter Eberleins vonGünzburgp.24.4 zeigen die Erbitterung, welche gegen die Verwaltung der Rechtspflege in den unteren Kreisen herrschte. Allein diese Klagen und Reformvorschläge, welche einer Zeit angehören, in der das römische Recht schon seit länger, als einem Menschenalter sich festgesetzt hatte, sind uns nur ein Zeichen für den auch sonst bekannten Druck der Mißbräuche und Verwirrungen, welche die Umgestaltung der Rechtspflege unter den Händen halbwissender und eigennütziger „Schreiber", wie man sie kurzweg bezeichnete, zur Folge gehabt hatte. Aber sowohl die unpraktischen Reformvorschläge, als auch die Gleichstellung der Juristen mit den ebenso verhaßten Kaufleuten, läßt uns erkennen, daß es sich hier weniger um nationale Regungen, als um greifbare soziale Uebelstände handelt, welche man durch kommunistisch gefärbte Reformen zu beseitigen wünscht.

Es kann und soll indeß nicht geleugnet werden, daß schon vor den erregten Zeiten der Bauernkriege eine Opposition im Volke sich geltend machte. Jede Veränderung hergebrachter Zustände pflegt gerade in den untersten Schichten ein tiefes Mißbehagen zu erwecken. Denn wenn schon jedes Neue als Unbequemlichkeit empfunden wird, so erscheinen die Mängel, welche es mit sich bringt, doppelt gefährlich und bedrohlich im Vergleiche zu [Seite XXV] den Uebelständen des Alten, deren gewohnte Last der Urtheilslose leichter tragen mag und lieber tragen will, als die Gefahren des Neuen auf sich zu nehmen. Man machte die Erfahrung, daß der Einfluß des gemeinen Mannes in den Gerichten durch die Autoritäten eines ihm unbekannten Rechts paralysirt wurde; man war vor die Notwendigkeit gestellt, sich zur Vertretung seines guten Rechts mit schweren Kosten eines gewerbsmäßigen Procurators zu bedienen, dem man das Schicksal seiner Sache anvertrauen mußte, so gering auch sein Interesse an ihrem Ausgang sein mochte. Und wenn nun der Lauf der Prozesse sich dehnte und verschleppte, und schließlich eine Entscheidung erging, welche mit den überlieferten und von den Schöffen für Recht gehaltenen Ansichten im Widerspruch stand? Da ist es nicht zum Verwundern, wenn oft in Unmuth und Verdruß die ganze Neuerung mit allen daran betheiligten Personen verwünscht wurde, und wenn sich der Zorn gelegentlich in solchen Ausbrüchen Luft machte, wie uns von den Schöffen zu Frauenfeld imThurgau berichtet wird, die einmal einen Doctor juris mit den Worten: „wir fragen nicht nach dem Bartele und Baldele und anderen Doctoren", zur Thüre hinausgeworfen haben sollen.p.25.1.

Allein man wolle uns nicht die biederben Eidsgenossen im Thurgau als die echten Vertreter des nationalen Bewußtseins, nicht die Verstimmungen über die praktischen Uebelstände der Neuerung als Regungen des Nationalgefühls, nicht die Juristen als entartete Söhne ihres Vaterlandes schildern!

Wir dürfen überhaupt die heutigen Vorstellungen des Nationalbewußtseins auf das Mittelalter nicht übertragen.p.25.2 Es erschien Dante nicht wie eine Erniedrigung seines Vaterlandes, daß der deutsche König als römischer Kaiser das höchste Regiment führen solle, sondern als eine heilige und glückbringende Weltordnung, für die er energisch mit seinem Worte eintrat. Und als im fünfzehnten Jahrhundert die deutschen Patrioten mit Wort und Schrift für die Ehre des deutschen Wesens gegen den Uebermuth der wälschen Anmaaßungen kämpften, war unter ihnen der Besten einer Sebastian Brant p.25.3, der es nicht für einen Widerspruch hielt, wenn [Seite XXVI] er zugleich mit ganzer Kraft der Gültigkeit des römischen Rechte die Wege bahnen half. Das Römische war dem Bewußtsein jener Zeiten für keine Nation ein Fremdes; sondern es erschien als das Allgemeine, Höhere, Allumfassende. Nicht nur die Sprache der Bildung allgemein, sondern das Reich, die Kirche, die Sprache der Andacht war römisch; und wie man die Lehren der Religion aus fremden Urkunden schöpfen mußte, so konnte es nicht allzubefremdlich erscheinen, daß das Gleiche bei einem über allen anderen erhabenen Recht der Fall sein sollte.

Denn daß überhaupt das Recht gelernt werden müsse, widersprach dem Bewußtsein so wenig, daß man umgekehrt vielmehr geneigt war, jedem Rechtsbuche, welches mit einem leidlich begründeten Anspruche auf Autorität hervortrat, einen gläubigen Gehorsam entgegenzubringen. Von unseren heutigen Theorien über die Naturwüchsigkeit des Rechts war man weit entfernt: und sollte der Rechtszustand ein besserer werden, als er war, so begriff man wohl, daß man die Hülfe nicht aus der eigenen Kenntniß und Erfahrung schöpfen könne. Das Gefühl von der Verwirrung und Unsicherheit des Rechtszustandes aber war allgemein. Wie nun vor Alters die römische Plebs die Abfassung der zwölf Tafeln erstrebt hatte, weil sie in einem Codex geschriebener Gesetze die Sicherstellung ihres Rechts zu erlangen hoffte, so durften auch die bürgerlichen Klassen in Deutschland von der Geltung des geschriebenen kaiserlichen Rechts die Herstellung und Befestigung eines geordneten Rechtszustandes erwarten. Ihre politische Stimmung fand Befriedigung darin, daß der Macht des Kaisers ein neues Rüstzeug bereitet ward, wenn sein Recht überall zur Geltung durchdringe. Und wenn die Ritterschaft von ihm nicht mit Unrecht eine Gefährdung ihrer Prärogativen besorgte, so mußten gerade die volksthümlichen Elemente der Nation einem Rechte zugethan sein, welches die Privilegien der gewaltthätigen Ritterschaft nicht kannte, die Unterschiede der Stände fast vernichtete, ein gleiches Recht für Alle war, und dem mächtig aufstrebenden Bürgerstande die sichern und erprobten Normen für seinen Verkehr an die Hand gab.

Alle diese Momente nun begründeten eine gewisse Wahlverwandtschaft zwischen der volksthümlichen Bewegung der Zeit und dem römischen Rechte. Sie macht es uns erklärlich, daß gerade gegen den Schluß des fünfzehnten Jahrhunderts dem von oben her geübten Einflüsse der Gelehrten eine Strömung von unten entgegenkam, welche sich am kräftigsten in der Neigung der Städte zur Aufnahme des römischen Rechts zeigte, und trotz aller [Seite XXVII] Uebelstände und Beschwerden im Einzelnen, doch im Großen und Ganzen mächtig genug war, um zu bewirken, daß demselben in der unteren Rechtspflege der Stadt- und Landgerichte freiwillig schon damals eine ausgedehnte Geltung eingeräumt wurde, als ihre Besetzung noch längere Zeit eine volksthümliche blieb.

Die Halbgelehrten sind es, welche in diese Kreise die Kenntniß des fremden Rechts trugen und über seine Anwendung wachten. Ihrer Ungeschicklichkeit aber und der eigennützigen Ausbeutung ihrer Ueberlegenheit ist es auch zum großen Theile zuzuschreiben, wenn die begründeten Klagen über die Mißbräuche in der Rechtspflege so laut und bitter wurden.

Die allgemeinen Verhältnisse begünstigten die Verbreitung halber Gelehrsamkeit in hohem Grade, indem sie gleichzeitig einerseits die Anregung zum Erwerbe eines gewissen Maaßes gelehrter Kenntnisse, und andrerseits die Hindernisse ihrer Vollendung in sich trugen. Der erwachte und weit verbreitete Bildungstrieb, der sich von jeder Ueberlieferung des Alterthums angezogen fühlte, dazu der Reiz, den die wachsende Geltung der fremden Rechte und das steigende Ansehen ihrer Vertreter ausüben mußte, waren Grund genug, um eine nicht geringe Zahl von Jüngern unsern heimischen Rechtsfakultäten zuzuführen. Allein wie sie häufig kaum mit der Fertigkeit im Lateinischen genügend ausgerüstet waren, um den Vorträgen folgen zu können; so kehrten sie der Regel nach mit einer oberflächlichen, lückenhaften und verworrenen Kenntniß der Rechte heim. Noch in den ersten Jahrzehnten des sechzehnten Jahrhunderts, wo doch schon der Humanismus verbessernd auf das Schulwesen eingewirkt hatte, ward Spott und Klage laut über die geringe Vorbildung der jungen Juristen; und wir dürfen von diesen Aeußerungen einen sicheren Rückschluß auf die noch schlimmeren Zustände im fünfzehnten Jahrhundert machen, welche die natürliche Folge der schlechten Methode und ungenügendenHülfsmittel waren. [Anmerkung: Diese Thatsachen sind zu bekannt, um des Beweises zu bedürfen. Es möge genügen, an die Aeußerungen von Luther, Melanchthon, Hutten, Joh. Appel, Viglius von Zuichem, Hotomannus zu erinnern. Vgl. Stintzing, U. Zasius, S. 8ff. S. 107 f., Muther, Joh. Apel, S.6 ff., derselbe, Aus dem Universitäts- u. Gelehrtenleben, S. 263 ff.; Stobbe, Rechtsquellen, Bd. 2 S. 29 f., Melanthon, de legibus oratio, ed. Muther p. 19. Hutteni ad Crotum in Neminem praefatio. Opp. ed. Boecking I p. 179.] Das Studium der Jurisprudenz aber bot in jenen Zeiten Schwierigkeiten dar, welche uns in diesem Maaße unbekannt sind. Denn nachdem unsere [Seite XXVIII ] Wissenschaft Jahrhunderte lang mit dem Stoffe des römischen Rechte gerungen, hat sie es endlich zu einem hohen Grade systematischer Beherrschung gebracht, und auf dieser Grundlage eine Methode der Lehre und Darstellung ausgebildet, welche es auch der gewöhnlichen Begabung möglich macht, an jener Herrschaft einen sicheren Antheil zu gewinnen.

Dagegen ist der trostlose Zustand des akademischen Unterrichts im fünfzehnten Jahrhundert bekannt genug.p.28.1 Es kommt hier zunächst wieder in Betracht, daß die Vertretung des römischen Rechts auf den deutschen Universitäten bis gegen das Ende des Jahrhunderts oft sehr mangelhaft und vorübergehend, die Gelegenheit zu seiner Erlernung daher nur dürftig war. Aber auch, wo es an dieser äußerlich nicht fehlte, traten andere Umstände erschwerend in den Weg. „Durch den Nebel endloser Commentarien, sagt Hutten, ist das sonst wohl genießbare Studium in Kimmerische Finsterniß gehüllt." Die scholastische Exegese schlug sich durch zahllose Quästionen und Distinctionen eigener und fremder Erfindung hindurch, um schließlich für den Text selber keine Zeit übrig zu behalten. Wenn es vorkam, daß auf die Auslegung eines Pandektenfragments Monate verwendet und kaum mehr als fünf Stellen im Jahre absolvirt wurden,p.28.2 daß selbst der Institutionarius mit seiner einleitenden Vorlesung fünf bis sieben Jahre verbrachte;p.28.3 so sind zwar solche exorbitante Fälle auch in jener Zeit als Ausnahmen zu betrachten. Allein ihre Möglichkeit giebt einen Anhalt, um auf die Regel zu schließen, welche durch die uns überlieferten Lektüren und Kollegienhefte bestätigt wird. Sieht man die Fülle des hier gehäuften Materials, und rechnet hinzu, welchen Zeitverlust das Diktirenp.28.4 des Textes mit sich bringen mußte, da man den Besitz der Quellen bei den Scholaren nicht voraussetzen durfte: so erkennt man wohl die Unmöglichkeit, das enorme Pensum in der gewöhnlichen Studienzeit von vier bis fünf Jahren zu erschöpfen. Aus den Vorträgen allein vermochte Keiner auch nur halbwegs ein Verständniß von der Gesammtheit des römischen Rechts zu gewinnen. Und doch war die mündliche Lehre damals von so viel größerer [Seite XXIX] Bedeutung, als heut zu Tage, wo selbst dem Unbemittelten die Benutzung einer Fülle literarischer Hülfemittel als Ergänzung oder Ersatz zu Gebote steht.

Nur hervorragenden Köpfen oder bei besonderer Gunst der Umstände konnte es gelingen, das Fehlende zu ersehen, und mit gewaltiger Anstrengung sich durch die Commentarien hindurch in die Quellen hinein zu arbeiten, und so auf selbständigem Wege eine umfassendere juristische Bildung zu erwerben. Die Mehrzahl dagegen, welche nur mäßige Kraft, beschränkte Zeit und geringe Mittel auf das Studium zu verwenden hatte, ward nicht, wie heutigen Tages, durch die Macht der Methode zu einem tüchtigen Mittelmaaße der juristischen Bildung emporgehoben, sondern mußte wohl hinter diesem weit zurückbleiben, und mit weniger als halben Kenntnissen von der Hochschule in das praktische Leben übergehen.

Diese Halbgelehrten sind es, welche sich seit der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts von Jahr zu Jahr in wachsenden Schaaren über das Land verbreiteten, und, durch jene Hemmnisse, welche der Staat heute durch seine Examina aufgebaut hat, nur selten belästigt, sich in mancherlei Stellungen eines überwiegenden Einflusses auf den Gang der niederen Rechtspflege bemächtigten.

Das bedeutendste Amt, welches sich ihnen eröffnete, war das eines Stadtschreibers,p.29.1 zu welchem die größeren Städte sich oft einen hervorragenden Juristen ausersahen, der seinen Namen mit Ehren der Nachwelt überliefert hat; das aber öfter, und in den kleineren Städten wohl gewöhnlich, dem Mittelschlage überlassen werden mußte. Für die gering besoldeten Schreiberstellen in untergeordneten Geschäftskreisen hielt sich ein Doctor juris, für viel zu gut; und wie eben diese Stellen nach der Meinung der Zeit für die Halbgelehrten bestimmt waren, deutet uns ein interessanter Briefp.29.2 aus dem Jahre 1526 an. Eine Mutter schreibt aus Frankfurt an ihren in Wittenberg studierenden Sohn (Johann von Glauburg), er möge nach Hause zurückkehren, und bemerkt dazu : „wann Du lang studyrst und nit ein ußbund von eim Doctor bist, so ist Dir nit ein Heller nutz ... Du wolst dan by eim hern ein schryber werden, dat nit Dein stamm gemes ist." [Seite XXX]

Das Amt des Schreibersp.30.1 vereinigte in sich die Functionen eines Notars, Protokollführers, Urtheilsverfassers und Rechtsconsulenten. Er trat auch wohl als Beisitzer in das Gericht ein, um den Richtern und Schöffen mit seiner Rechtskenntniß auszuhelfen. Das alte „Gerichtsbüchlein" (s. unten S. 215 ff.) erklärt daher das Wort „Assessor" in folgender Weise: „Einer der bei einem Richter sitzet und ihn unterweiset, ob der Richter nicht schriftweis ist, der heißt ein Beisitzer." Der Schreiber sollte zunächst die entscheidenden Stellen des Rechtsbuches verlesen,p.30.2 wobei es ursprünglich keineswegs, oder doch nur subsidiär, auf römisches Recht abgesehen war. An die Verlesung knüpfte sich die Auslegung, und an die Belehrung überhaupt als natürliche Folge ein Einfluß auf die Entscheidung, welcher in demselben Maaße steigen mußte, in welchem das fremde Recht als Norm der Entscheidung zur Anerkennung gelangte. Und mehr noch als für das materielle Recht, gilt dies für den Prozeß, wenn er nach den römisch-kanonischen Formen geleitet werden mußte.

Die durchschnittliche Qualität dieser Schreiber und ihr Wirken schildert uns in einer zwar stark auftragenden, aber gewiß treffenden Weise Melanchthon.p.30.3 „Jetzt," sagt er, „richten die Ungelehrten (indocti fere), die, damit sie nur ein wenig wissen, einen von jenen gewöhnlichen Geschäftsleuten (pragmatici) zu Rathe ziehen, die desto frecher und verworfener sind, je weniger sie gelernt haben. Mit den Augen eines solchen Menschen sehen sie, mit seinen Ohren hören sie, was er faselt, das beschließen sie. Wie sein liebes Vieh zieht jener Rechtsverdreher sie bei der Nase."

Bei diesen „pragmatici" denkt Melanchthon übrigens wohl nicht bloß an die angestellten „gemeinen Schreiber", sondern an die juristischen Praktiker aller Art, welche als Advokaten und Notare einen freien Erwerb betrieben; und unter diesen haben wir die Mehrzahl unser Halbgelehrten zu suchen.

Schon ehe das italienische Notariat einbürgerte, ist das Schreiben [Seite XXXI] von Urkunden aller Art in Deutschland als ein Gewerbe betrieben worden, mit welchem sich ganz naturgemäß eine gewisse Rechtskunde verband, wenn auch damals die Urkundenschreiber keinen besonderen Stand, den höhere Autorisation von andern Schreibern auszeichnete, bildeten.p.31.1 Die ersten Notare, welche nach italienischer Art ihr Geschäft auf höhere Autorisation betrieben, sind in Deutschland Magistri gewesen, welche ihre Würde auf italienischen Universitäten und ihre Autorität durch päpstliche oder kaiserliche Verleihung erworben hatten.p.31.2 Neben diesen aber haben die Notare älterer Art ihr Geschäft ungestört fortgesetzt. Als nun im fünfzehnten Jahrhundert mit der Umgestaltung des gerichtlichen Verfahrens die Verwendung öffentlich autorisirter Notare häufiger wurde, wuchs ihre Zahl in gleichem Verhältnisse, indem die Automationen in steigendem Maaße nachgesucht wurden. Die Ernennung kaiserlicher Hofpfalzgrafen, welche seit dem vierzehnten Jahrhundert in Deutschland immer zahlreicher wurden, erleichterte dies in hohem Grade; und seit Friedrich III. war es Regel, daß alle Notare von den Pfalzgrafen creirt wurden.p.31.3 Allerdings ward eine gewisse Ausbildung von dem zu Creirenden gefordert, und er sollte diese in einer Prüfung vor dem Pfalzgrafen bewähren.p.31.4 Allein es lag in der Natur der Sache, daß man eigentlich gelehrte Kenntnisse nicht fordern durfte, daß eine im unteren Schreiberdienste erworbene Geschäftsroutine im Ganzen genügen mußte, und daß überhaupt bei der sehr mannigfaltigen Beschaffenheit und oft sehr geringen Bildung der mit dem Hofpfalzgrafenamte Beliehenen, die Prüfung durchschnittlich nicht viel zu bedeuten haben konnte.p.31.5

In ähnlicher Weise bildete sich in der Periode, von welcher wir reden, die Thätigkeit der Advokaten und Prokuratoren zu einem Lebensberufe heraus. An die Stelle der ehemals aus dem Umstande oder aus den Schöffen gewählten Fürprecher treten, die „gemeinen" Fürsprecher; [Seite XXXII] Männer, welche als „gemeine Redner" das Geschäft prozessualischer Vertretung berufsmäßig betrieben, und so den Stand der Sachwalter in Deutschland begründeten.p.32.1. Noch der Layenspiegelp.32.2 kennt jene alte Art der Fürsprecher. Er berichtet tadelnd, daß „bey etlichen niedern und dorfgerichten vielleicht auß ainfeltigem unwissen oder gewonlichen mißbrauch solch redner, vorsprecher und väterlich beyständ von den beysitzern unn urtailern zu nemen erlaubt unn gestatt" sei. Er hebt die Nachtheile dieser Gewohnheit hervor, erörtert die nöthigen Eigenschaften und das angemessene Verhalten eines Anwaltes, und fährt dann fort: „so mag ouch nitt yedermann geübt redner auff oder mit ym bringen. Darumb an ettlichen ennden gemainredner bestellt, unnd mögen nach gewonhaytte der gericht, irer belerungen und ander sachen halben, mit ayden oder wie hernach folgt, verpflicht werden." Solche, bei einem Gerichte aufgestellte „gemaine Redner" und „gemeine Prokuratoren" kommen gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts so vielfach in den Städten sowohl, wie beim Reichskammergericht vor, daß es unnöthig ist, Beispiele anzuführen. Es waren die vornehmeren und angeseheneren Genossen eines Standes, von welchem sich im Ganzen die Doctoren fern hielten, weil ihnen der Zutritt in höhere Stellungen eröffnet war. Es blieb daher das freie Gewerbe derProkuratur den Halbgelehrten, welche in der Schreiberstube herangebildet oder mit einer flüchtigen Universitätsbildung übertüncht waren, vorzugsweise überlassen.

So wird uns dieser Stand von Melanchthonp.32.3 geschildert. „Bei dieser Stumpfheit der Richter", sagt er, „dringen in die Gerichtsstätten die fadesten Rabulisten als Sachwalter ein, die aus einem Prozesse den anderen herleiten, ihre Clienten schinden, die Städte plündern und die unwissenden Richter mit immer neuen Kniffen zum Spott machen." Aehnlich klagt Johann Köbelp.32.4 in dem Nachworte zu seinem Prozeßhandbuche über die „ungeschickten, unerfarenen, eygensinnigen Fürsprechen, die sich nit weisen noch leren lassen, auch selbs nichts wissen, denn ein frevelich geschwetz." — „Sie haben sich," so fährt Melanchthon fort, „mit den Gesetzen selber nicht beschäftigt, sondern nur aus den Formeln einiger geriebenen Praktiker ihre Kenntniß geschöpft, und daher versteht sich von selbst, daß sie von der Pest der verderbtesten Schriftstellerei angesteckt sind." [Seite XXXIII] Uebereinstimmende Aeußerungen finden sich in großer Zahl bei Zasius,p.33.1, welcher es liebt, zwei Klassen von Juristen zu unterscheiden: die echten Doctoren und die unwissenden „philodici, qui non jam tondere clientes, sed deglubere et totos vorare cupiunt". Und wie viel Wahres in der harten Aeußerung desselben Schriftstellers liegt, wenn er sagt, daß diese Leute „die Gerichte vergiften, der Richter spotten, die Ruhe stören, den Staat zu verwirren suchen und Göttern und Menschen verhaßt sind" — das zeigen uns die öfter erwähnten lauten Klagen und lebhaften Beschwerden, welche sich gerade in den unteren Schichten der Bevölkerung gegen die gelehrte Jurisprudenz erhoben. Denn wenn auch in diesen Beschwerden meistens nur die „Doctoren" genannt werden, so versteht es sich wohl von selbst, daß dabei an die Rechtsgelehrten überhaupt, und speciell an die dem bürgerlichen Rechtsleben am nächsten stehenden Praktiker gedacht ist.p.33.2

Die Schreiber und Sachwalter sind es vorzugsweise, welche an den überlieferten Anschauungen vom Rechte und seiner Pflege rüttelten und zerrten, und eben dadurch den Boden lockerten und die tiefen Furchen aufrissen, welche den neuen Saamen aufnehmen sollten. Mochte aus Unverstand und bösem Willen viel gesündigt und geschädigt werden, so ging doch der wohlthätige Einfluß des besseren Elements daneben steitig fort; und trotz aller Klagen gewann das fremde Recht nur breiteren Boden und schlug tiefere Wurzeln im bürgerlichen Leben. Denn im Ernste unternahm man es nicht, seine Vertreter auszurotten oder aus der Praxis zu verbannen; sondern wir sehen vielmehr, daß Anstalten getroffen wurden, um durch Erweiterung und Vermehrung der Hochschulen ihre Zahl zu vergrößern und ihre Bildung zu heben. Es geschah in der richtigen Erkenntnis, daß ein genügender Schutz gegen die Gefahren der Rabulisterei der Schreiber und Sachwalter nur dadurch zu erlangen war, daß man einestheils diesen Stand selber veredelte, anderntheils seine unbedingte Überlegenheit über die Urtheiler brach.

Nun ist es zwar in der Periode, von welcher wir reden, noch nicht dahin gekommen, daß die Schöffen aus dem Volke durch rechtsgelehrte Richter verdrängt wurden. Vielmehr haben wir in den Untergerichten [Seite XXXIV] die merkwürdige Erscheinung vor uns, daß ein wesentlicher Theil des Rechts, welches angewendet werden sollte, von Denjenigen am wenigsten gekannt war, welche zum Urtheilen berufen waren. Aber dieser Zustand, welcher nur als eine Entwicklungskrisis begreiflich ist, mußte die eindringlichste Mahnung erwecken, daß sich die Richter und Schöffen selbst mindestens so weit mit dem geschriebenen Recht bekannt machen möchten, als nöthig war, um nicht in rathlosem Schwanken jedem Rabulisten Preis gegeben zu sein. Wir finden daher, daß die Anklagen sich in gleichem Grade wie gegen die Rabulisterei der Sachwalter und Schreiber, so auch gegen die Unwissenheit der Urtheilssprecher wenden, und einsichtige Männer, wie Peter von Andlow, Friedrich von Landscron, Nauklerus und Melanchthon heben mit Bestimmtheit hervor,p.34.1 daß gerade hierin vor Allem der Grund des Uebels liege. In seiner eindringlichen populären Weise ergeht sich darüber Sebastian Brant in der gereimten Vorrede zum Layenspiegel folgendermaaßen:p.34.2

Merckt auff ihr richter aller erden,
wenn wöllen ir doch witzig werden,
dem rechten bronnen nach gedencken
und nit in euwrem duncken schwencken!
Wänen ir das die recht auff baumen
gewachsen sein, oder von traumen,
das man nit auch müs haben acht
was unser öltern hand bedacht?
Das recht ist von Got und den alten
alles gesetzt und also gehalten,
von denen die leute eere und land
und alle reich besessen hand,
das man mit form gestalt und maß
ist beliben auff der rechten straß.
Maniger spricht: müßt man alleweg leben
dem Buch, so säß ich hye vergeben,
und wäre gnug mit solchem wesen
ains schreibers, der das Buch thät lesen.
Der annder spricht: sag, geselle mein,
weder seind Bücher ee gesein,
oder die leut die sye hand gemacht;
haben die leut Bücher erdacht,
[Seite XXXV] so mag man noch vil leut vinden
die ander Bücher machen künden.
Du hast gantz war mein lieber hanns,
Aber du redest wie ain ganß!
Wären die nit geschickter gewesen,
mer waisheit und vernunft gelesen,
dann du und dartzu doctor Brand:
So wäre es ye übel gestanden
mit rechtsprechen in allen lannden.
— — — — — —
Was du nit waißt das soll du fragen,
laß dir das ain geleerten sagen,
oder der mer recht hab erfarn;
in solchen sol sich nyemands sparn.
— — — — — —
Wölcher aim mit urthail aufflaidt
wider recht, durch unwissenhaidt,
solch richter thut sich selbs beladen
für ain abtrag kostens und schaden.
Wan wer sich rechtens underwint
und sich doch ungeschickt befint,
das er nichts waißt, der hab gedult,
wann er auf sich lad schadt und schuldt.
Gleich wie ain artzt, der ainen schneidt
zu kurz, zu lang, zu tieff, zu weidt,
Der ist schuldig an der gethat,
Das er thut, das er nit verstat.
Damit ain yeder gewarnet sey,
das er sich halt dem rechten bey
und nit auß aygem kopf vermain,
das er all waißhait hab allain,
mit im verfür Stett leut und land,
das wünscht aim yedem doctor Brand.

Einer viel früheren Zeit gehören folgende Aeußerungen an, welche wir der ältesten Ausgabe des später sogenannten Klagspiegels entnehmen.

Bl. 180, b. Item du machst sprechen: ist solchs von rechten gesatzt, warum halt mans dan nit? Item solichs kompt am meysten von unwissenheyt. wusten aber die partheyen die recht, so wurde solichs gar vil furkommen. wan die richter musten sich nit alleyn umb die peen forchten. sunder auch irer falschen urteyl schawmen. (Vgl. zu S. 392, Nachträge).

Bl. 186, b. wan die kunstlosigkeit der richter, der vil in deutschen landen sein, mag die form des gerichtszwang nit uberwinden. [Seite XXXVI]

Bl. 189, a. und daz ist wider die narrischen heckenrichter in dorffern, sie sollten allein über schelmige huner und die den pfitzfitz haben und ander schelmischs vihe urteyl sprechen.

Wir dürfen wohl annehmen, daß solche Mahnungen nicht unbeachtet blieben, daß sich vielmehr in der Periode, während welcher die Gerichte höherer Instanz von Kaisern und Landesherren mehr und mehr mit Gelehrten besetzt wurden, die Umgestaltung der Untergerichte in langsamer und unscheinbarer Weise dadurch vorbereitete, daß man bei der Wahl der Schöffen und Beisitzer solche Personen vorzugsweise berücksichtigte, welche ein gewisses Maaß juristischer Kenntnisse für sich anführen konnten. Der Layenspiegel,p.36.1 den man als einen ziemlich getreuen Ausdruck der herrschenden Praxis betrachten darf, spricht es aus, daß die „ganz ungeleerten" nicht Richter sein könnten, und daß auch von den Beisitzern die zum Richteramt Untauglichen ausgeschlossen sein sollten. Es steht damit in Verbindung die wachsende Tendenz, den niederen Bürgerstand aus den Gerichten zurückzudrängen. So erklärt der Layenspiegel, daß „under weinschenck, pecken, metzgern unnd andern gemainen handtwerckern oder gewerbern nit mer dann ain person zusammen gesetzt werden" sollen; und die Layische Anzeigungp.36.2 rät, den „armen Pawersman jm Niederland bey seiner veldarbeyt, dar zu er on zweifel nutzer und geschicktter wäre, dann zum urteln sprechen", zu lassen.

Allerdings ist nicht daran zu denken, daß man schon jetzt eigentliche rechtsgelehrte Kenntnisse von den Richtern und Beisitzern forderte, wenn gleich der Layenspiegel in ihre Eide die Verpflichtung, nach „des Reichs gemeinen Rechten" zu urtheilen, aufgenommen hat. Allein die höchst klägliche und peinliche Lage, in welcher sich der unwissende Schöffe dem rechtskundigen Schreiber und Sachwalter gegenüber befand, mußte naturgemäß das Verlangen nach dem Besitze eines gewissen Maaßes juristischer Bildung für diese erzeugen. Und wenn demselben auch keineswegs allgemein entsprochen werden konnte, so dürfen wir doch annehmen, daß eine nicht geringe Zahl aus den höheren Bürgerklassen, denen es um Erhaltung ihres Antheils an der Verwaltung von Recht und Regiment zu thun war, sich angelegentlich [Seite XXXVII] bemühten, von dem fremden Rechte wenigstens so viel zu erlernen, als nothwendig erschien, um nicht völlig rath- und hülflos der Superiorität jedes Rabulisten verfallen zu sein.

So treffen wir denn die Halbgelehrten unter den Schreibern, den Notaren, den Sachwaltern, den Urtheilern: und wie verschieden auch das Maaß der erworbenen Kenntnisse unter ihnen vertheilt sein mochte, so bilden sie doch in ihrer Gesammtheit die Vermittlung zwischen dem kleinen bürgerlichen Leben und der fremden Gelehrsamkeit.

Das Bild, welches wir bisher von der Stellung und dem Wirkungskreise der Halbgelehrten zu entwerfen suchten, gewinnt erst seine volle Wahrheit, wenn wir die Hülfsmittel kennen lernen, mit denen sie sich bildeten, das Handwerkszeug, mit welchem sie ihre Arbeit vollbrachten.

Weder die Quellen, noch die überladenen Commentarien der italienischen Rechtsgelehrten waren für ihre Bedürfnisse brauchbar. Wer mit halbem Wissen von der Universität heimkehrte, wird sich nicht nach jenen schwerverständlichen und schwerfälligen Büchern zurückgewendet haben, bei denen er mit geringem Erfolge schon manches Jahr verbracht hatte, wenn er überhaupt in ihren Besitz gelangt war. Wem das Lateinische nicht geläufig war, wer akademische Studien weder hinter sich hatte, noch zu beginnen beabsichtigte; wer nur für das nächste praktische Bedürfniß sich einigermaaßen mit dem fremden Rechte bekannt machen wollte : dem konnte es nicht in den Sinn kommen, nach den Hülfsmitteln der Gelehrten zu greifen. Aber auch Derjenige, welcher mit der besten Absicht und guten Vorkenntnissen ausgerüstet die Universität bezog und sein Rechtsstudium begann, wird vor den Quellen und dem sie umgebenden Wust der scholastischen Weisheit rathlos dagestanden haben : denn keine der gelehrten Commentationen war dazu angethan, ihm durch verständige Methode den Eingang in diese neue Gedankenwelt zu eröffnen, oder ihm einen, wenn auch nur mechanischen, Schlüssel zu überliefern.

Eine eigene Klasse der Schriftstellerei ward durch diese mannigfaltigen Bedürfnisse zu Tage gefördert, um ihnen hülfreich zu begegnen. Sie ist, wie die Bildungsstufe, der sie dienen soll, meistens von sehr [Seite XXXVIII] untergeordneter Beschaffenheit, wenn wir auf den wissenschaftlichen Gehalt sehen. Um so höher ist ihre geschichtliche Bedeutung : denn ohne sie hätte sich die Rezeption des römischen Rechts nicht vollenden können, weil nur durch sie die ungeheure Kluft ausgefüllt wurde, welche zwischen der von Italien überkommenen Jurisprudenz und dem bürgerlichen Leben Deutschlands bestand.

Der durchschlagende Charakter der populären Literatur liegt darin, daß sie nicht auf wissenschaftliches Verständniß, sondern auf Erfassung des Positiven mit dem Gedächtniß; nicht auf das Begreifen des inneren Zusammenhangs, sondern auf die Einprägung der äußerlichen Unterscheidungen; nicht auf die Erkenntniß des Wesens der Rechtsinstitute, sondern auf die Erlernung ihrer formalen Erscheinung hinarbeitet. Mit kurzgefaßten Regeln, Uebersichten und Auszügen, mit Verzeichnissen der Eintheilungen und Titel-Ueberschriften, war man bemüht, eine mechanische Herrschaft über den Inhalt der großen Rechtsbücher zu begründen ; und um leicht dem Gedächtnisse nachhelfen zu können, ward häufig der alphabetischen Ordnung der Vorzug eingeräumt. Die Rechtsgeschäfte und gerichtlichen Handlungen erfaßte man von ihrer formalen Seite, als derjenigen, welche sich dem Gedächtnisse am leichtesten einprägt : man lehrte und lernte sie in gedrängten Uebersichten und zahlreichen Formeln, durch deren Besitz man zugleich den Inhalt bis zu einem gewissen Grade beherrschte.

Bezeichnend ist es ferner, daß wir in dieser populären Literatur von der Berücksichtigung des heimischen Rechts mit wenigen Ausnahmen nur geringe Spuren finden. Ihr Zweck liegt in der Erlernung und Anwendung des fremden Rechts. Allein wenn wir bisher vorzugsweise vom römischen Rechte sprachen, weil eben dessen Einbürgerung das Ziel unserer Betrachtungen ist, so muß hier an die bekannte Thatsache erinnert werden, daß sich dieselbe nur in stäter Begleitung des kanonischen Rechts vollzogen hat. Wie sich dies in der gelehrten Literatur zeigt, so tritt es auch in der populären greifbar hervor, weshalb wir hier nicht von einer bloß römischen, sondern nur von einer römisch-kanonischen Doctrin und Praxis reden, und keinen dieser beiden Bestandtheile in unserer Darstellung absondern können; wir werden sogar mit Rücksicht auf Aehnlichkeit und Verwandtschaft manche Schriften hereinziehen müssen, welche vorzugsweise oder ausschließlich das kanonische Recht berücksichtigen. Ganz besonders gilt das Gesagte von den prozessualischen Hülfsbüchern : denn auf diesem Gebiete hatte das kanonische Recht mehr als auf einem andern die römischen [Seite XXXIX] Grundsätze umgestaltet und weiter gebildet. Es wird daher das Gerichtsverfahren in der Gestalt, welche es in den geistlichen Gerichten gewonnen hatte, gelehrt, und vorwiegend sind es geistliche Gerichte und geistliche Sachen (im weiteren Sinne des Worts), welche in den Formularien als Beispiele erscheinen.p.39.1

Wenn wir von der populären Literatur am Schlusse des fünfzehnten und dem Anfang des sechszehnten Jahrhunderts reden, so ist damit nicht gemeint, daß sie dieser Periode ihrem Ursprunge nach angehöre; es gilt dies vielmehr nur von einem Theil derselben. Allein wir dürfen gewiß als die Literatur einer Zeit diejenige bezeichnen, welche ihren Bedürfnissen in einer bestimmten Richtung diente und dadurch zugleich sie beherrschte. Für den Umfang dieser Bedeutung aber bietet uns einen äußeren Maaßstab die Verbreitung durch den Druck.

Als sich das Gewerbe der Buchdruckerei in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts über Deutschland verzweigt hatte, warf sich naturgemäß die Spekulation auf die Vervielfältigung solcher Schriften, welche nach dem Geschmack und Bedürfniß der Zeit den reichsten Absatz in Aussicht stellten. Wie wir daher von dem Maaße der Vervielfältigung einen sicheren Schluß auf die Bedeutung, welche man einem Werke für die Zeitverhältnisse beilegte, ziehen dürfen; so ist auch umgekehrt zu sagen, daß der Einfluß einer Schrift eben durch ihre größere Vervielfältigung gesteigert werden mußte. Und wenn eine Schrift damals nicht zum Gegenstande buchhändlerischer Spekulation gemacht wurde, so hatte sie ohne Zweifel in den Augen der Zeitgenossen nicht den Werth der Brauchbarkeit; erlangte aber auch, eben weil sie nicht zur typographischen Verbreitung kam, nur einen untergeordneten Einfluß. Aus diesen Gründen ist bei der Bemessung des Umfanges der populären Literatur von der Thatsache der typographischen Vervielfältigung auszugehen.p.39.2

In einer verhältnißmäßig untergeordneten Stellung bezüglich der typographischen Verbreitung in Deutschland finden wir während unserer Periode die großen Commentarien der italienischen Legisten und die Quellen des römischen Rechts, von welchen nur die Institutionen im fünfzehnten Jahrhundert etwa zwölf Mal von deutschen Druckern herausgegeben wurden. Günstiger stellt sich das Verhältnis bei den Quellen und der gelehrten [Seite XL] Literatur des kanonischen Rechts. Denn nicht nur die einzelnen Stücke des Rechtsbuches, sondern auch umfassende Commentarien zu demselben haben wiederholt und in größerer Zahl um dieselbe Zeit in Deutschland Auflagen erlebt : eine Erscheinung, welche sich zum Theil aus der überwiegenden Pflege des kanonischen Rechts, zum Theil daraus erklärt, daß hier mit dem Bedürfnisse der Wissenschaft und Rechtspflege, das praktische Interesse der Kirche zusammentraf.

Einen absolut sicheren Maaßstab für die Verbreitung einer Schrift in Deutschland giebt indeß die Thätigkeit der heimischen Officinen nicht an die Hand. Denn es muß die Concurrenz der italienischen Drucker mit in Betracht gezogen werden, welche mit ihren deutschen Kollegen in Austauschgeschäften standen, und manchen deutschen Gelehrten sowohl bei seinem Aufenthalt jenseits der Alpen ausrüsteten, als auch späterhin mit seinem Bedarf versorgten; und umgekehrt hat mancher deutsche Drucker zugleich für den auswärtigen Markt gearbeitet, wie denn namentlich bei den kanonischen Werken auf Absatz in der gesammten Kirche gerechnet werden durfte. Allein immerhin wird uns der Betrieb der heimischen Officinen ein annähernd richtiges Bild von dem Bedarf des Inlandes geben, da dieser bei der geringen Bedeutung der Ausfuhr doch ganz überwiegend die Richtung der Unternehmungen bestimmen mußte.

Es gilt dies vorzugsweise von der populären juristischen Literatur. In Italien und Frankreich, wo der Rechtszustand bereits über die Stufe hinausgewachsen war, auf welcher sich jetzt Deutschland befand, konnte auf Absatz nur wenig, und für die in deutscher Sprache verfaßten Schriften gar nicht, gerechnet werden : und dennoch sehen wir, daß die deutschen Drucker gerade auf diesem Gebiete miteinander wetteifern. Die kleinen und großen populären Schriften, welche theils anonym, theils unter einem obscuren oder bald erborgten, bald echten berühmten Namen in die Welt geschickt wurden, fanden einen so massenhaften Absatz, daß der ungeduldigste Spekulant ihn kaum besser wünschen konnte. Nur wenig andere Zweige der buchhändlerischen Industrie lassen sich daher mit diesem an Ausdehnung und Regsamkeit vergleichen.

Es kommt vor, daß eine und dieselbe Druckerei von einem Werke in einem Jahre mehrere Auflagen veranstaltet hat, während gleichzeitig oder kurz vorher und nachher andere Druckereien ebenfalls denselben Artikel auf den Markt bringen. Dies ist z. B. bei Lectura Jo. Andreae super arboris consanguinitatis et affinitas der Fall, welche bis zum Jahre [Seite XLI] 1500 mehr als dreißig Mal in Deutschland gedruckt ist. Die Auflagen anderer Schriften können schon bis zum Jahre 1500 dutzendweise nachgewiesen werden; so z. B. des Modus legendi, des Vocabularius, des Ordo judiciarius Jo. Andreae, des deutschen und lateinischen Belial, des Defensorius. Bei anderen bleibt die Verbreitung zwar hinter diesen Zahlen zurück; aber auch bei ihnen folgen die Ausgaben in kurzen Zwischenräumen auf einander, und dieselben oder nahe verwandte Schriften erscheinen fast gleichzeitig an mehreren Orten Deutschlands; oder auch verschiedene Autoren bemächtigen sich desselben Gegenstandes, und geben kurz nach einander ähnliche Werke heraus. So ist das Eine oder Andere der Fall bei dem Prozeß des Johann von Auerbach, einigen kleineren Schriften des Bartolus, den Satans-Prozessen, einer ganzen Reihe von Schriften über das Notariat, den Formelbüchern, dem Klagspiegel, endlich bei dem großen Sammelwerke des Liber plurimorum tractatum und ähnlichen.p.41.1

Die große Mehrzahl dieser Schriften gehört ihrem ersten Ursprunge nach weder Deutschland, noch der Zeit an, von welcher wir reden. Dennoch aber müssen wir ihre Gesammtheit als die Literatur dieser Zeit bezeichnen. Denn neben den damals in Deutschland verfaßten Schriften gewannen die mannigfaltigen Erzeugnisse ähnlicher Art, welche in früheren Zeiten und fremden Ländern entstanden wann, jetzt auf deutschem Boden eine neue Bedeutung für das Leben, und beherrschten den juristischen Büchermarkt. Wo sich irgend eine Schrift auftreiben ließ, welche dem Bedürfnisse der Gegenwart dienlich schien, da bemächtigte sich ihrer schnell ein Sachkundiger, und die buchhändlerische Speculation verschaffte ihr einen Einfluß, den sie früher in solchem Maaße bei weitem nicht besessen. Denn das Publikum war nicht wählerisch; was ihm in die Hände geführt ward, verschlang es mit Heißhunger und ohne prüfendes Urtheil, wenn es seinem Bedürfnisse zu entsprechen schien. Und je kleiner die Schrift, je wohlfeiler der Drucker sie mit Hülfe dürftiger Ausstattung und sorgloser Correctur auf den Markt bringen konnte, desto sicherer und ausgedehnter war bei den hohen Bücherpreisen ihre Verbreitung.[Seite XLII]

Sieht man auf den wissenschaftlichen Gehalt der Mehrzahl dieser Schriften, so begreift man sehr wohl die Klagen eines Zasius und Melanchthon über die „Pest der verderbtesten Schriftstellerei." Und diese Vorwürfe sind um so mehr begründet, als jene Schriften zum größten Theil noch in einer unglaublich corrumpirten Form herausgegeben wurden. Schon die Handschriften hatten unter den Händen unverständiger Bearbeiter oder nachlässiger Abschreiber im Laufe der Zeit vielfach Schaden gelitten. Die Flüchtigkeit, mit welcher man aus Sparsamkeit den Druck meistens veranstaltete, that das Uebrige, um Texte herzustellen, deren Fehlerhaftigkeit und selbst Sinnlosigkeit uns unglaublich erscheint.

Allein die Zeit war im Ganzen durch Gewöhnung gegen solche Dinge abgehärtet. Und wenn die gelehrten Herren gegen die populäre Literatur überhaupt eiferten, so vergaßen sie, daß für die Kreise, welche von dieser genährt wurden, die massenhafte Gelehrsamkeit Italiens vollständig unbrauchbar war. Wollte man den Nachtheilen begegnen, so hätte man für die Verbesserung jener populären Schriften, für die Herstellung von Hülfsmitteln sorgen müssen, welche dem Bedürfnisse und der Fassungskraft entsprachen, ohne zugleich durch unklare und mißverständliche Darstellung und gehäufte Casuistik zu verwirren.

Wenn nicht die bedeutendste Kraft unserer Nation durch andere Interessen absorbirt worden wäre, so hätte vielleicht Deutschland schon vor dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts selber eine juristische Literatur erzeugt, welche in ähnlicher Weise, wie später die zahlreichen, auf humanistische und kirchliche Fragen bezüglichen populären Schriften, in die Anschauungen einer neuen Zeit einleiteten; oder für die Jurisprudenz wäre ein Praceptor Germaniae aufgestanden, der gleich Melanchthon mit seiner Grammatik die Elemente einer neuen, dem Geiste der Nation zu vermählenden Bildung unter die Masse brachte. Allein die Verhältnisse waren den fremden Rechten weniger günstig. Nicht nur, daß ihnen überhaupt eine so tiefgreifende Bedeutung für die sittliche und intellectuelle Bildung der Nation nicht zukommt, wie den Gegenständen, auf welche die Arbeit der Reformatoren und Humanisten gerichtet war, und daß sie daher hinter diese zurücktreten mußten in der Bewegung der Zeit; sondern sie waren auch in Deutschland eine verhältnißmähig viel neuere Erscheinung, und hatten noch nicht, wie die Überlieferungen des klassischen Alterthums, bereits eine, wenn auch verkümmerte, Geschichte in Deutschland durchlebt. Galt es bei diesen vor allen Dingen unter dem wüsten Schutt der Zeiten aufzuräumen; so [Seite XLIII] galt es dagegen bei dem römischen Rechte, einen Anfang zu machen mit dem Erlernen Man überkam dieses Recht mit der daranhängenden imposanten Masse ausländischer Gelehrsamkeit; nur Wenige begriffen, daß der von dieser dicken filzigen Schaale umschlossene Kern das Wesentliche sei; um ihn aber rein darzustellen und so zu zerlegen, wie es ein rationeller Unterricht forderte, hätte man eine so genaue Kenntniß seines Wesens und eine solche geistige Herrschaft darüber schon besitzen müssen, wie sie erst im Lauf längerer Zeit erworben werden konnte. Und zu dem Allen kam, daß es mit theoretischen Hülfsmitteln, mit elementaren Lehrbüchern nicht gethan war : denn die Kenntnisse, welche man nicht besaß, sollten sogleich unmittelbar im praktischen Berufe pflichtmäßig verwendet werden. Das Leben drängte und konnte auf die Schule nicht warten.

Kein Wunder daher, daß man in dieser dringenden Noth nach den ersten besten Hülfsbüchern griff, wo man sie fand. Mochten auch hervorragende Männer ihre Mängel erkennen, so wollte dieses gegenüber dem Drängen des Bedürfnisses, welchem die Tadler nicht abhalfen, wenig bedeuten. Auch mißtraute man ihrem Tadel, weil er von dem gelehrten Hochmuthe eingegeben schien, und brachte dagegen jenen Schriften, weil sie zum Theil aus Italien stammten oder sich an italienische Gelehrsamkeit anlehnten, auch wohl durch den Namen eines berühmten Verfassers mit Recht oder Unrecht empfohlen waren, im Großen und Ganzen ein günstiges Vorurtheil entgegen.

Wir dürfen dabei nicht übersehen, daß die Zeit, welche hauptsächlich von dieser Literatur beherrscht wurde, zum großen Theil noch vor die Blüthe des Humanismus in Deutschland fällt. Es war die zweite kleinere Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts, eine Periode, in welcher die entartete Scholastik trotz der begonnenen Angriffe sich fast überall im festen Besitz behauptete, der ihr in der Jurisprudenz noch kaum irgend streitig gemacht war. Als aber der Humanismus auch auf die Jurisprudenz einigen Einfluß gewann, kam er der populären Literatur nur wenig zu Gute. Denn seine Anhänger mußten, erfüllt von unbegrenzter Verehrung des klassischen Alterthums und gleicher Geringschätzung gegen die sie umgebende Barbarei, nothwendig Wege einschlagen, welche jener Richtung fern lagen. Daher geschah es denn, daß die gelehrten Juristen, welche von dem neuen Geiste berührt wurden, in der populären Schriftstellerei nur eine neue Abirrung von der Wissenschaft sahen, und sich ihr feindlich gegenüberstellten. Für das Bedürfniß. welches in dieser Richtung seine Befriedigung suchte, hatte[Seite XLIV] der Humanismus kein Verständniß. Nur etwa der eine Zweig der populären Literatur, welcher für die Einleitung in das theoretische Studium bestimmt war, begegnete seinen Interessen. Allein erst im zweiten Jahrzehent des sechszehnten Jahrhunderts wird die Aufmerksamkeit der humanistisch gebildeten Juristen auf die Frage der Lehrmethode energischer hingelenkt, um sie dann in einem von der populären Literatur sehr abweichenden Sinne zu lösen.

Dennoch ist der Humanismus dieser Literatur nicht ganz fern geblieben. In manchem Vertreter werden wir unverkennbare Spuren humanistischer Richtung wiederfinden ; und einer der bedeutendsten Vorkämpfer des Humanismus, Sebastian Brant, nimmt als Verfasser, noch mehr aber als Herausgeber populärer Hülfsbücher einen hervorragenden Platz ein. Aber freilich ist es nicht das eigentliche Lebensprinzip des Humanismus, nicht seine treibende Kraft, welche hier zur Wirksamkeit gelangt; sondern nur nebenher ist ein kleiner Vortheil für diese geistig untergeordnete Literatur abgefallen, während im Ganzen die unter dem Einflusse des Humanismus fortschreitende Entwickelung jene zurückdrängt, und bis auf einige Reste schon vor der Mitte des sechszehnten Jahrhunderts beseitigt.

Mehr als der klassische Humanismus kam eine andere mit jenem parallel laufende Zeitrichtung der populären Jurisprudenz zu Statten. Es geht, wie schon hervorgehoben wurde, durch das fünfzehnte Jahrhundert bedeutsam der Zug einer volkstümlichen Erhebung. Die unteren Stände hatten sich zur Geltung emporgearbeitet, die Städte ihre feste Stellung im Reiche, in ihnen selbst die Zünfte gegenüber dem Patriziat das gleiche politische Recht gewonnen. Die höfische ritterliche Poesie war zurückgetreten gegen die volksmäßige Dichtung; der Bildungsdrang, auf der Tüchtigkeit und dem Wohlstande des Bürgerthums beruhend, bemächtigt sich der unteren Schichten, und erzeugt jene seltsame Erscheinung der fahrenden Schüler. Während man die vornehme und zugleich unfruchtbare Gelehrsamkeit mit Spott verfolgt, erstrebt man die Hebung der Schulen zum Unterricht des Volks, und tüchtige Pädagogen legen den Grund zu einer allgemeinen bürgerlichen Bildung. Zugleich sehen wir, wie man seit der Mitte des Jahrhunderts wieder beginnt, deutsch zu schreiben und die Schätze der Bildung dem Volke in der Muttersprache zugänglich zu machen.

Mit dieser Richtung, welche der Literatur ihren Charakter gab, verschwisterte sich das Bedürfniß des Rechtslebens : und als hervorragender [Seite XLV] Repräsentant dieser Verschwisterung erscheint Sebastian Brant, in dessen Person sich der Humanismus, die volksthümlich-didaktische Poesie und die populär-romanistische Jurisprudenz vereinigten. Von der allgemeinen Strömung popularisirender Didaktik ward auch unsere Literatur getragen, und stellt daher mit ihren lateinischen und deutschen Hülfsbüchern eine durcbaus homogene Zeiterscheinung dar. Denn gerade auch die Muttersprache trat hier in ihre Rechte ein.

Fußnoten
p.18.1. Vgl. Schäffner, das römische Recht in Deutschland während des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts. Stobbe, Rechtsquellen, Bd. II S. 19 fl. => zurück
p.20.1. An der strikten Befolgung der bekannten Dekretale Honorius III v. J. 1219 (c. 10 X. ne clerici 3, 50) ist allerdings zu zweifeln, aber nicht an ihrem Einfluß auf die gesammte Stellung des Klerus gegenüber den Leges. => zurück
p.21.1. Vgl. Stintzing, U. Zasius S. 85 ff. und Beilage II. Franklin, Beiträge zur Geschichte der Reception des R. R. S. 151. Stobbe, Rechtsquellen, Bd. 2 S. 9 ff. und dazu die Ergänzungen und Berichtigungen von Muther, zur Quellengeschichte des D. R., Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Bd. 4 S. 323-406. => zurück
p.21.2. Vgl. Stobbe, Rechtsquellen, Bd. 1 S. 631 ff., Bd. 2 S. 44-63. => zurück
p.21.3. Vgl. Franklin, Beiträge, S. 116 ff. Stobbe, Rechtsquellen, Bd. 2 S. 83, 102. => zurück
p.22.1. Zasii Epist. Ed. Riegger p. 62. Er denkt wohl nicht bloß an die wirklichen "sordes". => zurück
p.22.1. Vgl. die Bemerkungen von Muther (Zeitschr. f. Rechtsgeschichte, Bd. 4 S. 381 f.) zu Stobbe, Rechtsquellen, Bd. 2 S. 50 ff. 95 ff. => zurück
p.24.1. Aehnlich urtheilt Stobbe, Rechtsquellen, Bd. 2 S. 49, 50. => zurück
p.24.2. Vgl. die Mittheilungen und richtige Beurtheilung bei Stobbe, Rechtsquellen, Bd. 2 S. 45 Anm. 3. => zurück
p.24.3. Stobbe, a.a.O. 52. => zurück
p.24.4. Die funfzehn Bundsgenossen. Darunter: der XI Bundsgenoß. Ein newe ordnung weltlichs stands das Psitacus anzeigt hat in Wolfaria beschriben (München.) Es heißt darin: Vom gesetz und landtrecht. — Alle alte kayserliche und pfaffen recht thund wir ab. Jetlicher sol gemeine recht wissen, unn daz jetlicher wiß sin billichs unn unbillichs. kain jurist, kain fürspräch soll fürhin wo sein, welcher im selbst nit kann reden, der näm den nächsten mitburger. Von peinlichen straffen. Kain peinlich statut soll fürhin angenommen werden das nit im gsetz Moysi ußtruckt ist, dann der mensch soll nit harter straffen wenn gott. => zurück
p.25.1. Ueber diese oft erzählte Anekdote vgl. Zöpfl, Rechtsgeschichte, S. 208. [Anm. HS: vgl. jetzt Cl. Schott, ... => zurück
p.25.2. Vgl. darüber auch Stobbe, Rechtsquellen, Bd. 2 S. 39. => zurück
p.25.3. Vgl. Stintzing, Zasius, S. 31 ff., ferner für die nächstfolgende Zeit Muther, aus dem Universitäts- und Gelehrtenleben, S. 77 ff. und derselbe, Zeitschrift f. Rechtsgeschichte, Bd. 4 S. 421. Die Richtung Brants und seiner Zeitgenossen ist treffend charakterisiert von Zarncke, Seb. Brants Narrenschiff, Einleitung. Vgl. auch unten S. 452 ff. => zurück
p.28.1. Vgl. die Darstellungen bei Stintzing, U. Zasius, S. 73 ff., S. 95 ff. Muther, Joh. Apell, S. 7 ff.; Aus dem Gelehrtenleben, S. 237. Derselbe, Conrad Lagus in den Jahrbüchern v. Glaser, Bd. 5, Heft 5, S. 394. Stobbe, Rechtsquellen, Bd. 2. S. 22 ff. => zurück
p.28.2. Alciati oratio Bonon. habita. 1537. Vgl. Savigny, Bd. 3 S. 547 e. Panzirol. Lib. 2 c. 4. => zurück
p.28.3. Muther, Joh. Apell. S. 9 f. Aus dem Univers.- und Gelehrtenleben, S. 241. => zurück
p.28.4. Ueber das Diktiren vgl. Meiners, Gesch. d. hohen Schulen, Bd. 3 S. 280 ff. => zurück
p.29.1. Heineccius historia juris p. 1036 sequ. Maurer, Gesch. des öffentl. und mündl. Ger.-Verf. § 108 - 110. Stobbe, Rechtsquellen, Bd. 1 S. 642 ff., Bd. 2, S. 58 ff., S. 104 ff., S. 107. ff. => zurück
p.29.2. => zurück
p.30.1. Der "gemeine, offene, offenbare Schreiber" der Städte hieß später gern "Syndicus", in älterer Zeit auch wohl wegen seines geistlichen Standes schlechtweg der "Pfaff". Heineccius, historia juris p. 1036. Ueber den Geschäftskreis der Raths- und Stadtschreiber vgl. due Urkunden über U. Tennglers Anstellung in Nördlingen unten S. 417 ff. => zurück
p.30.2. Daher läßt sich Brant in seiner gereimten Vorrede zum Layenspiegel den Einwurf machen:
"Und wär' genug mit solchem wesen
Ains schreibers, der das Buch thät lesen."
=> zurück
p.30.3. Melanchthon, oratio de legibus. Ed Muther 1860. p. 21 f. => zurück
p.31.1. Oesterley, das deutsche Notariat, Bd. 1, S. 385. => zurück
p.31.2. Oesterley, a.a.O. S. 396, 417. => zurück
p.31.3. Oesterley, a.a.O. S. 434. => zurück
p.31.4. Notariatsschulen nach dem Muster Italiens gab es in Deutschland nicht. Allerdings errichtete Henricus de Isernia, welcher um 1270 nach Prag kam, dort eine Schule, zu welcher er alle einlud "qui fieri Notari cupiunt". Ueber die späteren Schicksale dieser Schule der Rhetorik und Grammatik ist mir Nichts bekannt. Vgl. Stobbe, Rechtsquellen, Bd, 1 S.448 Anm. 7. => zurück
p.31.5. Oesterley a. a. O. S. 439 ff.. Ueber Creirung der Notarien im 14. Jahrh. vgl. Weller, Altes aus allen Theilen der Geschichte, Bd. 1 S. 141 ff. => zurück
p.32.1. Maurer, Geschichte des öffentl. und mündl. G.-V. § 97. 100. => zurück
p.32.2. Layenspiegel von 1511. Bl. 7-9. => zurück
p.32.3. Melanthon, Oratio de legibus. Ed. Muther, p. 21. => zurück
p.32.4. J. Köbel, Gerichts-Ordnung. Oppenheim 1523. 4°. Bl. 67b. => zurück
p.33.1. Zasii Opera. Francof. 1590. Tom. 1. col. 346. 358. 488. Stintzing, Zasius, S. 103. => zurück
p.33.2. Vgl. darüber u. A. die Erzählung des Rodericus Zamorensis in seinem Speculum vitae humanae Lib. 1 c.18 (Argentor. 1507. fol. 21 b sequ.). Ferner Stobbe, Rechtsquellen, Bd. 2 S. 50, 102. => zurück
p.34.1. Stintzing,Zasius, S. 90 ff. Stobbe, Rechtsquellen, Bd. 1 S. 645 f. Melanchthon, orat. de legibus 1.1. => zurück
p.34.2. Layenspiegel v. 1511 Bl. 7, a bis 8, a. => zurück
p.36.1. Layenspiegel, Augsb. 1511 Bl. 3 a. 4 a. => zurück
p.36.2. Ain laijsche Anzaigung, So allen Landsässen etc. s.a. fol. (München). Sie ist 1531 geschrieben ( Stobbe,Rechtsquellen, Bd. 2 S. 153) und liefert also für unsere Periode nur mittelbar einen Beweis. => zurück
p.39.1. Hiervon macht jedoch der Klagspiegel eine bemerkenswerthe Ausnahme. => zurück
p.39.2. Vgl. über diese und die folgenden Ausführungen Stobbe, Rechtsquellen, Bd. 2 S. 16 ff. Muther, Zeitschr. f. Rechtsgesch., Bd. 4 S. 410. => zurück
p.41.1. Es möge hier erwähnt werden, daß in den ältesten Verlagskatalogen der Augsburger Drucker Bämler und Sorg, mit welchen sie ihre "guten deutschen Bücher" den Kauflustigen empfehlen, mehrere von den populären juristischen Werken (der Belial, der Processus juris, die Summa Johannis von Bertold, der Formulari) neben anderen sehr beliebten populären Schriften erscheinen. Vgl. Allgem. literarischer Anzeiger v. 1798 S. 1890. Metzger, Augsburgs älteste Druckdenkmale S. 7. => zurück


Date: Digitalisierung von: Roderich Stintzing, Geschichte der populären Literatur des römisch-kanonischen Rechts in Deutschland am Ende des fünfzehnten und im Anfang des sechszehnten Jahrhunderts, Leipzig 1867
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