Der verehrte Jubilar hat sich durch seine Edition der Polizei- und Landesordnungen1 nicht nur um die neuere Privatrechtsgeschichte, sondern auch um die Geschichte des Prozeßrechts verdient gemacht. Mehrere Polizei- und Landesordnungen enthalten eingestreut prozeßrechtliche Bestimmungen22.
In diesem Beitrag soll der römisch-gemeinrechtliche Gehalt der prozeßrechtlichen Bestimmungen der Bayerischen Landrechtsreformation von 1518 (Ldr. Ref., Tit. 1-14) und der Gerichtsordnung für Ober- und Niederbayern von 1520 (GO) untersucht werden3. Heinz Lieberich4 bezeichnet diese Gerichtsordnung von 1520 als "eines der frühesten und bedeutendsten Denkmäler der Übernahme römisch-kanonischer Rechtsformen in das deutsche Recht"5. Sie ist ferner dadurch von Interesse, daß sie — abgesehen von dem "Buch der gemeinen Landpot/Landsordnung" von 1516 — das älteste für Ober- und Niederbayern gemeinsame Gesetzbuch darstellt6. In der Literatur hat dieses Werk relativ wenig Beachtung gefunden (vgl. oben Anm. 3).[S. 361]
Die "Reformacion der Bayrischen Landrecht" von 1518 der Herzöge Wilhelm IV. und Ludwig X.7 ist eng und unmittelbar mit dem deutschen Recht des Mittelalters verbunden; sie ist eine Erneuerung und Erweiterung des bis dahin in Oberbayern geltenden, im Jahre 1346 von den Söhnen Ludwigs des Bayern publizierten Landrechts (Oberbayer. LR)8. Sie gilt als eines der konservativsten Rechte der Zeit9. Der deutschrechtlich-konservative Charakter ist aber im wesentlichen auf das Privatrecht beschränkt; das Prozeßrecht der Reformation ist bereits überwiegend gemeinrechtlich10. Dieser stark römisch-gemeinrechtliche Charakter des Prozeßrechts erklärt sich daraus, daß das mittelalterliche Landrechtsbuch nur vereinzelte prozeßrechtliche Bestimmungen enthielt und daß diese erst in der letzten Phase der Bearbeitung der Ldr. Ref. von 1518 zu einer Verfahrensordnung ausgebaut wurden. Manche Titel sind ganz neu eingefügt11. Das Material entnahm man zum Großteil den Entwürfen zur GO von 1520, die gleichzeitig mit der Ldr. Ref. bearbeitet worden waren12. Die Kommission zur Ausarbeitung der GO war bereits auf dem Landtag von Ingolstadt im Jahre 1516 eingesetzt worden13. Die Vorrede zur GO erwähnt auch noch den Landtag zu Landshut nach Ostern 1519. Die Ldr. Ref. nimmt im Vorwort (vor dem Register) bezug auf die "neue Gerichtsordnung".
Eine Hauptquelle der GO von 1520 war die Wormser Stadtrechtsreformation von 149814, in geringerem Maße die Nürnberger Reformation von 147915; dieser [S. 362] Einfluß erstreckt sich auch auf die Ldr. Ref. von 1518. Als weitere Quelle nennt die GO von 1520 ausdrücklich die Reichskammergerichtsordnung (RKGO, von 1500, Augsburger Satzung)16. Insbesondere die Titel XIII, XIV und XV waren Vorbild für die GO Tit. V (ab 14. Gesatz)17; diese Quelle hat aber für die Ldr. Ref. 1518 keine Bedeutung erlangt18; vielleicht wurde sie erst nach Fertigstellung der Ldr. Ref. herangezogen.
Die GO von 1520 ist im Verhältnis zu den prozessualen Bestimmungen der Ldr. Ref. noch stärker romanisiert und enthält eingehendere Bestimmungon. So enthält GO Tit. V (24 Gesatz)19 detaillierte Vorschriften über Kriegsbefestigung (15. Ges.), Gefährdeeid (16. Ges.), Verfahren nach Kriegsbefestigung auf die artikulierte Klage (17. Ges. ff.). Diese Bestimmungen sind in Anlehnung an die RKGO von 1500 (Augsburger Satzung) aufgenommen (siehe oben). Tit. VIII (Beschlußred und Rechtsatz) und Tit. IX (Von Urteilen, Bei- und Endurteile, Nichtigkeit von Endurteilen) der GO haben in der Ldr. Ref. kein Gegenstück. Tit. XI der GO enthält genaue Bestimmungen über "Neuerungen" (Attentata) im Appellationsverfahren, über das Desertwerden (Desertion) der Appellation und über die Fatalia; diese Bestimmungen fehlen zum Großteil in der Ldr. Ref.20 Auch Tit. XIII der GO (Von Vollziehung und Handhabung der gesprochenen Urteile) hat in der Ldr. Ref. keine Entsprechung.
Die Ldr. Ref. von 1518 hatte nur in Oberbayern gesetzliche Geltung; sie wurde allerdings auch den niederbayerischen Gerichten als Hilfsmittel für die Rechtsfindung anempfohlen21; die GO von 1520 hingegen galt auch in Niederbayern22. Die GO hob den prozessualen Teil der Ldr. Ref. nicht auf, sondern galt in Oberbayern daneben subsidiär; im Konfliktfall gingen hier die Vorschriften der Ldr. Ref. vor23. J. Ch. Schwartz24 vertrat den Standpunkt, daß die ausführlichere [S. 363] GO auch in Oberbayern sehr bald die prozeßrechtlichen Bestimmungen der Ldr. Ref. verdrängt habe.
Sowohl die prozessualen Bestimmungen der Ldr.Ref. wie die GO 1520 galten für sämtliche Gerichte innerhalb des territorialen Geltungsbereiches25. Sie hatten sowohl Geltung für die fürstlichen Hofgerichte26 wie für alle Untergerichte, Landgerichte wie Stadtgerichte27. Damit war eine weitgehende Rechtsvereinheitlichung angestrebt. Die Romanisierung des Prozesses betraf somit in Bayern schon früh, zumindest theoretisch, auch die Untergerichte28. In zahlreichen anderen Territorien bestanden eigene Hofgerichts- und Untergerichtsordnungen29.
Eine Einschränkung der Geltung dieser Gesetze bestand darin, daß auf Bagatellsachen (unter zwei Gulden oder zwei Pfund Pfennig Münchner Währung) die Prozeßvorschriften nicht Anwendung finden sollten, sondern der Richter sollte in diesen Sachen "in der guetigkait nach seinen trewen" entscheiden (Ldr. Ref. VII 6 und GO V 5)30. In Streitsachen im Werte zwischen zwei und zehn [S. 364] Pfund Pfennig sollten die Richter "summarie und aufs fürderlichest in recht verfarn" (GO V 6)31.
Die Ldr. Ref. 1518 und die GO 1520 standen bis zur großen Reformgesetzgebung Maximilians I. von 1616 in Kraft. In diesem Jahr ergingen neben dem Landrecht u. a. als Teilgesetze ein ,Summarischer Proceß', ein ,Gandt Proceß' und eine ,Gerichtsordnung der Fürstenthumb Obern und Nidern Bayrn'32. Die Drucke dieser drei Prozeßgesetze lagen schon 1614 fertig vor33, wurden aber auch erst 1616 im Rahmen des Gesamtgesetzgebungswerkes verkündet34; sie traten zu Pfingsten 1617 in Kraft35.
Die Gerichtsordnung von 1616 (GO 1616) ist nicht bloß, wie O. Stobbe36 formuliert, "zum großen Theile aus der Gerichtsordnung von 1520 entlehnt", sondern geradezu als eine "neue Ausgabe"37, eine "Neuauflage"38 der GO von 1520 zu bezeichnen. In der Vorrede zum Gesetzeswerk von 1616 heißt es, daß man "Die in diesen Fürstenthumben im ordent-Rechtlichen Proceß bißhero gebreuchige Gerichtsordnung / auch ersehen / an etlichen Orten erleutert und verbessert / und wider von newen in Truck gegeben hat"39. Weder im Aufbau noch im Inhalt finden sich wesentliche Änderungen, die eine Weiterentwicklung des Verfahrensrechts darstellen würden. Wichtig ist nur eine Abänderung. Während nach der GO 1520 (Tit. V 4; so auch Ldr. Ref. VII 4) der Kläger "sein clag in schriften oder mit worten, in Recht sol fürpringen", sieht die GO 1616 (Tit. V 4) ausschließlich schriftliche Klagseinbringung vor40. Die GO von 1520 galt mit den Modifikationen der "Neuauflage" von 1616 praktisch über 230 Jahre, nämlich bis zum Codex Juris Bavarici Judiciarii (,Neu verbesserte Chur-Bayrische Gerichts-Ordnung') von 175341.
Der Summarische Prozeß, seit 1616 in einem eigenen Gesetz geregelt, war nach der GO 1616 (V 7) obligatorisch für Streitsachen unter 20 Pfund Pfennig (20 Gulden). Darüber hinaus bestand für den Kläger ein Wahlrecht zwischen dem summarischen und dem ordentlichen Prozeß. Wurde in solchen Fällen der summarische Prozeß gewählt, so hatte der unterliegende Teil die Möglichkeit, seinen [S. 365] Fall nochmals im ordentlichen Prozeß behandeln zu lassen (Summar. Prozeß 1616 I 3 u. 4)42. Als Grund für die fakultative Ausdehnung des Summarischen Prozesses auf alle Streitsachen wird in dem Vorwort "An den Leser" das Bedürfnis für einen schnellen Rechtsschutz genannt. Das Verfahren des "Summarischen Prozesses"43 kann schriftlich oder mündlich sein44. Werner Schöll45 sieht, m. E. zu Recht, den wahren Grund für die allgemeine Zulässigkeit des summarischen Prozesses darin, daß das Fürstentum Bayern im Jahre 1616 nur mit dem auf das summarische Verfahren beschränkten Privilegium de non appellando ausgestattet war46. Dieses Privilegium war im Jahre 1559 von Kaiser Ferdinand I. erteilt und am 27. Februar 1589 durch Kaiser Rudolf II. bestätigt worden. Erst im Jahre 1620 erhielt Bayern das unbeschränkte Privilegium de non appellando47. Die Entscheidung über die Frage der Wahlfreiheit zwischen summarischem und Ordinari-Prozeß war bei den Beratungen über den Summarischen Prozeß der Diskretion des Herzogs anheimgestellt worden48. Dies deutet darauf hin, daß es sich um eine politische Entscheidung gehandelt habe.
Hans Schlossers grundlegende Untersuchungen über den "Spätmittelalterlichen Zivilprozeß nach bayerischen Rechtsquellen" (1971) haben die Eigenständigkeit eines "typisch auf den bayerischen Territorialstaat des späten Mittelalters bezogenen Verfahrensrechts", eines prozessualen "Stylus Bavaricus", ergeben49. Schlosser50 hat ferner nachgewiesen, daß im Spätmittelalter in Bayern noch keine gezielte, umfassende Rezeption römisch-kanonischen Rechtes erfolgte, daß aber wohl bestimmte Institute des gelehrten Prozeßrechts Eingang fanden, insbesondere auf Gebieten, wo das heimische Recht den Anforderungen des Rechtslebens nicht mehr gewachsen war. Das traf vor allem zu für die Bereiche der prozessualen Stellvertretung, des Beweisrechts, der Rechts- und Urteilsfindung und des Hofgedingverfahrens51. Der alte Vorsprecher wurde durch den Gewalthaber [S. 366] und Klagführer als Prozeßstellvertreter abgelöst52. Im Beweisverfahren wurde die strenge Einseitigkeit der Beweisrolle aufgegeben und Gegenweisungen im Interesse der Wahrheitsfindung anerkannt53. Schon das Oberbayer. LR von 1346 hatte anstelle der schwerfälligen Urteilsfindung mit Frage und Folge den alleinurteilenden Richter gesetzt54. Die Gerichtspraxis hielt allerdings bis in das 16. Jh. an dem alten Frage- und Folge-Verfahren fest. Seit der zweiten Hälfte des 15. Jh.s galt der Majoritätsgrundsatz in Urteilerkollegien55. Am stärksten war wohl der Einfluß des gelehrten Rechts im Bereiche des Appellationsverfahrens. Im Hofgedingverfahren sind Elemente der Urteilsschelte mit solchen der gelehrten Appellation verbunden56.
Zu einer "obrigkeitlich autorisierten und gesteuerten Romanisierung" kam es in Bayern erst während des 16. Jh.s57; damit wurde der Charakter des Verfahrens grundlegend verändert. Einen Markstein in der Entwicklung bildete zweifellos die Bayerische Gerichtsordnung von 1520; in dieser (Tit. 12) ist die subsidiäre Geltung des römisch-gemeinen Rechts ausgesprochen58. Der Richter, der nicht Beisitzer, Rechtsprecher oder Urteiler bei sich hat, und allein Urteil spricht, "wie dann in Obern Bayernlandt an vil orten der geprauch ist", soll schwören (GO I 2): "Nemlichen das Er ... nach des Lands in Bairn jüngst aufgerichten Rechtpuech, und Gerichtzordnung, und derselben redlichen, leydlichen, und erbern Statuten, ordnungen und guten gewonhaiten. Wo aber der kains verhanden, nach des heyligen Reychs rechten ... gleich richten wöll, ..."
Dieser Eid ist nachgebildet dem Richtereid in der RKGO von 1495 (§ 3)59. Entsprechend ist der Eid für die Beisitzer, Urteiler und Rechtsprecher gestaltet (GO I 5)60.
Jeder Richter, der zu Gericht sitzt, soll seinen geschworenen Schreiber und Fronboten und die Gerichtsordnung und das Gerichtsbuch immer bei sich haben [S. 367] (GO I 6 u. 9; Ldr. Ref. I 2)61. Hauptaufgabe des Gerichtsschreibers war die Führung des Gerichtsbuches, in welches die Vorträge der Parteien, Abschiede und Urteile (GO I 6) einzuschreiben waren62; ferner die Ausfertigung der Gerichtsbriefe63.
Während etwa in der Steiermark im Verfahren im Landrecht (direkte) Prozeßstellvertretung bis 1618 unzulässig war64, war nach der Bayerischen Ldr. Ref. 1518 (Tit. V) und der GO 1520 (Tit. IV) direkte Stellvertretung im Prozeß allgemein gestattet65. Die Ldr. Ref. 1518 enthält noch einen eigenen Titel (VI) über Vorsprecher, Redner und Anweiser66; die GO 1520 enthält nur Bestimmungen über den Eid der Gerichtsprokuratoren, Vorsprecher und Redner (I 10) und den Eid fremder Anwälte und Redner (I 11); diese letzteren haben einen Gefährdeeid zu leisten.
Während die Ldr. Ref. (Tit. III) nur wenige Bestimmungen über das Ungehorsamsverfahren enthält, vor allem Bestimmungen über echte Not (,eehaft Not')67, regelt die GO (Tit. III) das Ungehorsams- bzw. Versäumnisverfahren sehr eingehend68. Art. 8 Oberbayer. LR und Art. 23 Münchner Stadtrechtsbuch haben schon ausdrücklich das Eremodizialverfahren vorgeschrieben, d. h. der Kläger konnte die Verurteilung des Gegners erst durch (einseitigen) Beweis der Klagetatsachen erwirken69. Die überwiegende Gerichtspraxis hielt aber bis zum [S. 368] Ausgang des 15. Jh.s beharrlich am eigentlichen Kontumazialprinzip fest70. H. Schlosser71 sieht in der Anerkennung des Eremodizialprinzips weitgehend das Ergebnis eigenständiger Rechtsfortbildung72.
Wenn der Kläger oder der Beklagte ungehorsam ist73, so soll der erschienene Teil den Ungehorsam des anderen "in Recht anzaigen, und darauf begern, das der Richter denselben aussnbeleibenden, für ungehorsam erkenne und halt" (GO III 2); dies soll der Richter durch ein Beiurteil oder stillschweigend durch Fortführung des Verfahrens tun. GO III 3-5 unterscheidet zwischen Ungehorsam des Beklagten auf das "erste fürpot und ladung", auf das zweite Fürbot und auf das dritte Fürbot. Wenn der Beklagte "auf das erste fürpot und ladung" nicht erscheint (GO III 3), kann der Kläger seine Klage trotzdem schriftlich oder mündlich vorbringen; der Richter soll, ehe er "vom rechten aufsteet", den Fronboten öffentlich "berueffen"74 lassen, ob der Beklagte oder ein Stellvertreter bei "dem Rechten oder Schrann sey", um die Klage zu verantworten. Erscheint der Beklagte nicht, wird dem Fronboten aufgetragen, diesen zu dem nächsten Gerichtstag "endlich und peremptorie" zu laden. Erscheint der Beklagte zum nächsten Gerichtstag, so wird er mit Einreden und Verantwortung nur gehört, wenn er dem Kläger die Gerichtskosten ersetzt (GO III 3, letzter Abs.).
Wenn der Beklagte auf das zweite Fürbot wieder ungehorsam bleibt, so hat der Kläger vier Möglichkeiten (GO III 4)75; er kann begehren: 1. Einsetzung in die Güter des Beklagten (ex primo decreto); 2. Geldstrafe (Mulcta) oder Pfändung beweglicher Sachen (dazu GO III 10); 3. Verbot des Betretens des Gerichtssprengels (GO III 11); 4. Fortsetzung des Verfahrens, als ob der Beklagte anwesend wäre, bis zum Endurteil. Dieser vierte Weg, "den des heiligen Reyches [S. 369] Camergerichtsordnung zuläßt, und dem Rechten gemäß ist" (GO III 4 letzter Abs.), entspricht dem Eremodizialprinzip76.
Der Beklagte ist nun ein drittes Mal zu laden und dabei ist ihm anzuzeigen, wie auf Begehren des Klägers weiter gegen ihn vorgegangen werden wird (GO III 5). Wenn der Beklagte zum dritten Gerichtstag wieder nicht erscheint, kann nun die Einsetzung in seine Güter "ex primo decreto" (GO III 6) erfolgen; durch die Einsetzung erlangt der Kläger die "leyblich besitzung" der Güter; der Kläger hat zunächst nur die Stellung eines Verwahrers, also bloße Innehabung77. Wenn der Beklagte binnen Jahresfrist vor Gericht erscheint und sich bereit erklärt, sich zu verantworten und die Gerichtskosten ersetzt, so soll ihm "die besitzung seines guets, es sey ligend oder farend, widerumb zugestellt werden" (GO III 7, l. Abs.). Bei ungenütztem Verstreichen des Jahres kann der Kläger um Einsetzung "ex secundo decreto" ansuchen (GO III 7, letzter Abs. u. III 9). Das zweite Dekret verschafft dem Kläger die Possession, nicht aber das Eigentum (GO III 9, letzter Abs.)78.
Der vierte Weg, das Verfahren in der Hauptsache bei Ungehorsam des Beklagten (GO III 12), steht dem Kläger jedenfalls offen, wenn bereits die Kriegsbefestigung erfolgt ist. Es kann aber auch vor Kriegsbefestigung erfolgen, wenn der Ungehorsam des Beklagten offenbar und verächtlich ist und die Hauptsache und das klägerische Begehren offenkundig rechtmäßig. Es genügt dann, daß der gehorsame Kläger den Krieg mit ,ja' befestigt; der Richter hat den abwesenden Beklagten zu vertreten. Das ist so zu verstehen, "das der richter all Termin, zil und Rechttäg, in verfarung der Sachen, alßdann so halten, kündtschaft verhören, und ander nottürftig erfarung thun, als wäre der antwurter entgegen, und darauf nach gestalt der gerichtzhandl" (GO III 12). Das Urteil kann zugunsten des Klägers oder des Beklagten ausfallen. Die Kriegsbefestigung wird in diesem Falle wie nach der RKGO 1495 fingiert79.
Auch nach Kriegsbefestigung stehen dem gehorsamen Kläger die vier [S. 370] Möglichkeiten des Verfahrens gegen den ungehorsamen Beklagten offen (GO III 12, 2. Abs.).
Bei Ungehorsam des Klägers ist ebenfalls zu unterscheiden zwischen der Zeit vor und nach Kriegsbefestigung (Ldr. Ref. III 2; GO III 13)80. Wenn der Kläger vor Kriegsbefestigung vor Gericht nicht erscheint, so soll er auf Begehren des Beklagten für ungehorsam erklärt werden und dieser soll von der Ladung und dem Gerichtsstand "ledig gezelt werden" (Entbindung von der Instanz); wenn der Kläger vor Kriegsbefestigung jemanden zum dritten Mal vor Gericht laden läßt und dann selbst nicht erscheint, so soll nach erfolgtem "Rufen" der gehorsame Beklagte "von der gantzen clag, und nit allain vom Rechtstand, entlediget" sein. Der Kläger soll, sofern nicht echte Not vorliegt, seine Klage verloren haben (GO III 13, l. Abs.); dies entspricht noch dem mittelalterlichen deutschen Recht81.
Wenn aber bereits Kriegsbefestigung erfolgt ist ("Wo aber die sach, mit Clag und antwurt verfasst war, ... GO III 13, letzter Abs.), so ist das Verfahren durchzuführen und das Urteil zu erlassen. Der gehorsame Teil hat aber, auch wenn er den Prozeß verliert, keine Prozeßkosten zu bezahlen. Diese Vorgangsweise entspricht dem gemeinrechtlichen Eremodizialprinzip82.
In allen Fällen, wo ,echte Not' (siehe oben bei Anm. 67) nachgewiesen wird, soll der Richter die ergangenen Urteile und Gerichtshandlungen, die aufgrund des Ungehorsams ergangen sind, "widerrufen, aufheben und abtun" (GO III 14; vgl. Ldr. Ref. III 3).
Bereits die RKGO von 1500 enthält die wichtigsten Grundsätze des Kameralprozesses: die Verhandlungsmaxime, die außerhalb der Audienzen zu übende Schriftlichkeit und das Prinzip des Artikel- oder Positionalprozesses, wonach Klagebegehren und Responsionen ,artikelweis' vorzubringen sind83. Der Kameralprozeß ist sehr stark durch das römisch-kanonische Prozeßrecht beeinflußt.
Die Titel XIII, XIV und XV der RKGO von 1500 waren Vorbild für die Bayerische GO 1520, Tit. V (ab 14. Gesatz)84.
Die GO 1520, Tit. V85 enthält Bestimmungen über die Form der Klage, die Einreden (,außzüg'), die Gerichtstage bis zum Beschluß der Sache sowie über den Gefährdeeid und den Eid, Bosheit zu vermeiden.
GO V 1 ("Wie die Form und wesentliche Stückh ainer yeden gemaynen clag [S. 371] in Recht sein sollen") entspricht Ldr. Ref. VII 186. Die Klage, das Libell, soll fünf wesentliche Stücke enthalten. Sie soll 1. den Richter angeben; 2. die Parteien; 3. die Klagsursache; 4. "sol die Clag lauter, verstendig, schicklich, nit weytleüfig, noch tunckel, oder zweiflhaftig, auch nit auf frag Ja oder Nains / gestellt werden"87; 5. das Klagebegehren.
Wenn der Beklagte auf dem bestimmten Rechtstag erscheint, soll der Kläger seine Klage im Recht mündlich oder schriftlich vorbringen nach den angeführten Bestimmungen (GO V 1) mit "Begehr des Beklagten grichtlichen Antwort" (GO V 4)88. Nach der GO 1616 (V 4) muß die Klageerhebung ausschließlich schriftlich erfolgen89.
Die GO 1518 (V 12) unterscheidet zwischen dilatorischen und peremptorischen Einreden, den sog. ,auszüglichen (aufzüglichen)' und den ,endlichen' Einreden (Auszügen)90. Die dilatorischen Einreden sollen vor Kriegsbefestigung geltend gemacht werden; sie werden nachher nicht mehr zugelassen. Der Beklagte soll begehren, ihn von dem gegenwärtigen Gerichtsstand oder Gerichtsübung, "ab instantia iudicii", und nicht von der Sache ledig zu erkennen (GO V 12, 1. Abs.). Die Auszüge, die die Hauptsache abstellen und abschneiden, nennt man peremptorische Exzeptionen; diese können vor und nach Kriegsbefestigung eingewendet werden. Werden sie vor Kriegsbefestigung eingebracht, werden sie im wesentlichen wie dilatorische Einreden behandelt. Sie sollen alle auf einmal vorgebracht werden (Eventualmaxime, GO V 12, 2. Abs.). Die aufzüglichen (dilatorischen) Einreden sollen schriftlich oder mündlich vorgebracht werden (GO V 14).
Jeder Partei sollen grundsätzlich nicht mehr als drei Schriften zustehen (GO V 14). GO V 15 ("Wie sich der Antwurter, so er den krieg wil bevestigen, halten sol") bestimmt, daß der Beklagte seine Antwort "in gemain oder sonderhait" geben kann91. Damit ist die generelle wie die spezielle Litiskontestation zugelassen92.[S. 372]
Wenn es eine Partei begehrt oder anbietet, ist der Gefährdeeid, das "juramentum calumniae", zu schwören (GO V 16)93. Es kann auch jeder Richter vor und nach Kriegsbefestigung von den Parteien das "juramentum malitiae", den Eid, boshafte Handlungen zu vermeiden, verlangen und ihnen auferlegen (GO V 17)94.
Sobald der Beklagte seine Antwort "in gemain oder sonder" gegeben hat, kann der Kläger verlangen, daß der Beklagte auf alle Positionalartikel, die in der Klage enthalten sind, "clar und lauter antwurt gebe" (GO V 18). Wenn die Klage aber nicht artikelweise verfaßt ist, kann der Kläger jetzt noch die Artikulierung der Klage vornehmen ("in artigkl austeilen", GO V 18)95. Der Beklagte kann verlangen, daß Positionalartikel, die nicht aus der Klage gezogen oder unförmlich und der Sache nicht dienlich sind, vom Richter verworfen und nicht zugelassen werden sollen (GO V 19). Auf die zugelassenen Positionalartikel ist der Beklagte zu antworten schuldig (GO V 20). Der Beklagte kann gegen die artikulierte Klage endliche Exzeptionalartikel einlegen, über deren Zulässigkeit auch der Richter zu entscheiden hat (GO V 22). Wenn der Beklagte endliche (peremptorische) Einreden geltend macht, so soll der Richter nicht in der Hauptsache fortfahren, sondern über die Einwendungen des Beklagten entscheiden (GO V 23)96.
Auf die Positionen sollen dann von den Parteien die Weisartikel (Probatorialartikel) für das Beweisverfahren gestellt werden; der Richter hat durch Beiurteil über die Zulässigkeit der Weisartikel zu erkennen (GO V 24)97.[S. 373]
GO VI98 behandelt das Widerrecht (Widerklage, Gegenklage, reconventio)99. Nach GO VI 1 kann der Beklagte vor seinem ordentlichen Richter, vor dem er geklagt wird, eine Gegenklage einbringen, die mit der Klage in Zusammenhang steht (Erfordernis der Konnexität)100. Es muß sich um persönliche Ansprüche handeln (GO VI 1)101. Der Beklagte kann die Gegenklage vor Kriegsbefestigung vorbringen oder bald nach Kriegsbefestigung, insbesondere wenn er sie schon vorher angekündigt hat (GO VI 3). In Sachen der Klagen und Gegenklagen soll "gleichförmig miteinander in Recht verfarn und geurteilt werden" (GO VI 4)102.
Das Beweisverfahren ist geregelt in GO VII103. Uber die Zulässigkeit der Weisartikel wird mit Beiurteil erkannt (GO V 24; siehe oben bei Anm. 97)104. Daraufhin kann jede Partei die Festsetzung eines Termins für die Erbringung der angebotenen Beweise verlangen (GO VII 1). Sobald ein Termin festgesetzt ist, soll eine Abschrift der Weisungsartikel dem Gegner zugestellt werden; dieser kann darauf seine Fragstücke ("interrogatoria") einlegen (GO VII 1). Die Vernehmung der Zeugen erfolgt durch den Richter, einen verordneten Beisitzer oder Kommissar, nicht öffentlich, in Abwesenheit der Parteien (GO VII 3)105. Der Richter hat einen Termin für die Eröffnung der Zeugenaussagen festzusetzen. Die Parteien können gegen die ,Zeugensag' entweder sofort Einreden erheben oder sie können Abschrift der Aussagen begehren und darauf mit Gegen- und Widerreden verfahren (GO VII 5).
Von Bedeutung ist die Bestimmung von GO VII 15: "Von beweysung der Statut, Landrecht, gepreüch und gewonheit in Bayrn"106. Wenn sich in Bayern [S. 374] jemand auf gemeiner Landschaft erklärte Freiheit, Landesordnung, Landpot, Gebrauch oder diese Gerichtsordnung oder auf das Rechtsbuch in Oberbayern oder auf die Stadtrechte beruft, so bedarf es keines Beweises dieser Normen. Ein jeder Richter, der zu Gericht sitzt, soll diese Gesetze allezeit bei Gericht haben107. Wenn ein Beweis dieser Normen vor fremden Gerichten und außerhalb des Fürstentums Bayern von jemandem erbracht werden müßte, so soll dies geschehen "nach vermög gemainer Recht". Wer sich auf Gewohnheiten beruft, muß diese Gewohnheiten auch vor Gerichten in Bayern beweisen108.
GO VII enthält eingehende Beweisvorschriften für verschiedene Fälle.
Tit. VIII der GO behandelt Beschlußreden und Rechtsätz109; in der Ldr. Ref. fehlt ein entsprechender Titel. Sobald die Parteien ihre Schriften eingelegt haben, sollen sie "beschließen". Dieses "Beschließen" (Beschließung) heißt im allgemeinen "zu Recht setzen" oder "Rechtsatz" (GO VIII 1); das bedeutet, "das sich die partheyen verzeihen aller weyter einfüerung, und wöllen also jrs tails beschlossen, und die sach, des Richters oder Urtailer erkanntnuß, bevolhen haben"110.
Wie H. Schlosser111 nachgewiesen hat, findet sich der Ausdruck "setzen zu Recht" seit dem Beginn des 15. Jh.s in Gerichtsbriefen, vor allem im Geltungsbereich des Oberbayerischen Landrechts. Die Formulierung findet sich auch im österreichischen Raum112 und in süddeutschen und Schweizer Gebieten, so etwa in Augsburg113 und Basel114. Schlosser115 betrachtet das "setzen zu Recht" als ein Rechtsinstitut, das sich im spätmittelalterlichen Verfahren entwickelt hat, ohne Einwirkungen des gelehrten Prozeßrechts116. [S. 375]
Das "setzen zu Recht" bedeutet den Antrag der Parteien an das Gericht auf Entscheidung117. Mit dieser Erklärung begeben sich die Parteien allen weiteren Vorbringens und weiterer Beweise118. Der Antrag bestimmt auch den materiellen Entscheidungsrahmen des Gerichts; der Richter ist an das durch die Rechtsätze beschränkte Parteivorbringen gebunden119. Der "Rechtsatz" wird im Verlauf der Rezeption der aus dem kanonischen Recht stammenden "conclusio causae"120 gleichgesetzt121.
Nach Beschließung der Sache können die Parteien, vor allem an den fürstlichen Hofgerichten, "schriftliche Ratschläge" (Gutachten) von bewährten Doktoren vorlegen und andere Schriften, "darin die Recht angezaygt werden" (GO VIII 5), dem Richter vorlegen. Der Richter kann auch von sich aus Rat einholen122.
GO IX handelt "Von urteyln, was underschaid zwischen bey und endturteyln sey, und wie man die schöpfen und gebn, und die gerichtsschäden ertailen sol, Auch in was fällen ain endturteyl nichtig sey"123. Die Ldr. Ref. 1518 enthält keinen entsprechenden Titel über Urteile124; Ldr. Ref. Tit. XIII handelt von "Mäßigung der Gerichtsschäden".
Es wird unterschieden zwischen Beiurteilen ("unterredlich oder beyurteil", GO IX 1) und Endurteilen125; dies entspricht der gemeinrechtlichen Unterscheidung zwischen "sententiae interlocutoriae" und "sententiae definitivae"126. [S. 376]
GO IX 5 behandelt die Erfordernisse für ein Endurteil ("Was Zierlichkeit zu einem endturtl gehörn"): l. Das Urteil muß schriftlich verfaßt sein127; 2. der Richter muß es sitzend und nicht stehend verkünden128; 3. das Endurteil soll den Namen des Richters enthalten und angeben, ob er ein ordentlicher Hofrichter, Landrichter oder Hofmarkrichter sei129; 4. die Namen der Parteien; 5. ob die Parteien bei Öffnung des Urteils anwesend gewesen oder eine ungehorsam nicht erschienen sei; 6. es soll darin angezeigt werden "die Clag und anderer gerichtlicher process, in der Substanz aufs kürtzist"; 7. das Urteil soll enthalten Verurteilung oder Entledigung der strittigen Sache.
Wenn das Endurteil nicht alle diese Erfordernisse erfüllt, "und nach altem herkommen, lang geyebten gepreüchen" einige unterlassen wurden, so soll das Urteil deswegen nicht nichtig und ungerecht sein, "dann guet altherkommen, gepreüch, und gewonheit, für Recht gehalten, und angenomen werden" (GO IX 5, letzter Abs.)130.
GO IX 6 führt aus, daß es nicht ratsam sei, in den Endurteilen eine besondere Begründung zu geben, "dann sich mecht liederlich begeben, das ain ungelerter Richter, in ainem endturteil ain unbeslieslich ursach setzen, und die ansechlichen beschliessend ursach, unterlassen möcht ...". Man wollte anscheinend die Aufhebung eines an sich richtigen Urteils wegen falscher Begründung auf diese Weise verhüten131.
Endurteile durften nicht bedingt sein (GO IX 6)132. [S. 377]
GO IX 7 befaßt sich mit den Prozeßkosten ("Gerichtsschäden"; vgl. Ldr. Ref. XIII).
GO IX 8 unterscheidet zwischen Nichtigkeit eines Urteils und Anfechtbarkeit wegen Ungerechtigkeit133. Wenn ein Urteil nichtig ist, bindet es nicht, hat keine Wirkung. Es kann auch nicht durch den Willen der Parteien bekräftigt werden (GO IX 8, letzter Abs.). Wenn das Urteil zwar nicht nichtig, aber sonst ungerecht ist, so kann es durch Mittel der Appellation, Berufung und Geding an den oberen Richter abgetan werden (GO IX 8, 2. Abs.).
GO IX 9 führt acht Nichtigkeitsgründe an; es ist dies aber keine taxative Aufzählung (IX 9, 9. Abs.). Im Falle der Nichtigkeit bedarf es keiner Appellation, sondern die Nichtigkeit kann vor dem Richter, der das Urteil erlassen hat, oder vor dem oberen Richter angezeigt und ausgeführt werden (GO IX 9, vorletzter Abs.)134.
Eine Nichtigkeit (Nullität)135 ist gegeben: 1. Wegen der Person des Richters, so wenn sich der Richter in Acht oder Bann befindet oder infam ist (nullitas ratione judicis); 2. wenn das Urteil nicht vom ordentlichen Richter ausgegangen ist, z. B. wenn ein Laie in geistlichen Sachen Recht gesprochen hat (nullitas ratione jurisdictionis); 3. wenn der Richter außerhalb seines Gebiets ein Urteil gefällt hat (nullitas ratione loci); 4. wenn das Urteil an einem Sonntag oder Feiertag gefällt wurde (nullitas ratione temporis); 5. wegen der Person des Klägers oder des Beklagten, z. B. wenn sich der Kläger in Acht oder Bann befindet (nullitas ratione litigatorum); 6. wegen der "Maß", die ein Richter in den Urteilen halten soll; wenn er etwa das Urteil nicht sitzend, sondern stehend fällt; wenn es nicht schriftlich ergeht (nullitas ratione modi — defectus sollennitatis et formae sententiae)136; 7. wegen der "Gerichtsübung": wenn ein Endurteil ohne [S. 378] vorhergehende Kriegsbefestigung ergangen ist; wenn ein Endurteil gegen einen Abwesenden ergangen ist, der nicht ordnungsgemäß "berufen"137 wurde (nullitas ratione processus)138; 8. wegen offenbarer Ungerechtigkeit (manifesta iniquitas)139, so wenn ein Endurteil einen offensichtlichen Irrtum enthält "oder das sy ist wider außgedruckte Kayserliche Recht, oder wider göttlich oder natürlich Recht. Doch sollen die alten Landtzgepreüch, und gut gewonhaiten hierjn, ob sy gleych wider das geschriben Recht wärn, damit nit abgenomen, oder dardurch die nichtigkait eingefüert werden." (GO IX 9, 8. Abs.).
Die Appellation140 ist geregelt in GO X ("Von appellationen, und wie die beschwärten von bey und endturteyln appellirn und dingen mögen, Auch wie derhalben appostl und urkündt, begert und geben, und was zuvolfuerung der appellation gethan werden sol") und XI ("Von neuen fürnemungen in hangender appellation ...")141.
Die Fortbildung des Gedinges gen Hof zu einem echten Rechtsmittel erfolgte im bayerischen Bereich schon im 14. und 15. Jh.; Einflüsse der Appellation des gelehrten Rechts waren von Bedeutung142. Zwei Verfahrensprinzipien waren für das bayerische Hofgeding bis zum Beginn des 16. Jh.s charakteristisch: 1. Das Untergericht war strikt an den Spruch des übergeordneten Richters gebunden. 2. Jeder Prozeß fand dort seinen Abschluß, wo er begonnen worden war143. H. Schlosser144 bezeichnet "das Geding des bayerischen Rechtsgebietes während des 14. und 15. Jahrhunderts als Mischgebilde, bestehend aus Elementen der deutschrechtlichen Urteilsschelte und der Appellation des gelehrten Rechts". Je nach der prozessualen Form der Urteilsfindung tritt die eine oder die andere Komponente stärker hervor. Die Rechtsfindung nach Buchsage145 bot zweifellos [S. 379] für die Rezeption der Appellation die besten Voraussetzungen; in diesem Bereich konnte die gelehrte Appellation die Urteilsschelte völlig verdrängen146.
Die Appellation und das Appellationsverfahren nach der GO 1520 sind schon ganz gemeinrechtlich147.
GO X 1 ("Was Appellirn sey") definiert: "Appellirn (das man im Fürstenthumb Bairn nennt dingen) ist ein berueffung, von dem untern Richter für den obrern, die das ergangen urteyl und den gerichtszwang des untern Richters (Sover söllich berueffung formlich beschicht) in rhue stellt, und füret dieselb sach, zu erkhanntnuss des obrern Richters, umb besser gerechtigkait willen."
Solche Appellationen können von Bei- und Endurteilen geschehen, doch mit Unterschieden, wie diese in den geschriebenen Rechten und in der GO geregelt sind (dazu unten).
Die Appellation muß binnen zehn Tagen, gerechnet von der Kenntnis vom ergangenen Urteil, erfolgen (GO X 2; vgl. X 11); dies ist die gemeinrechtliche Interpositionsfrist ("decendium appellationis")148. Die Appellation muß grundsätzlich beim Richter, der das Urteil gefällt hat, eingebracht werden, in Ausnahmsfällen vor einem Notar (GO X 3).
Die Appellation hat insbesondere vier Wirkungen (GO X 4): 1. eine aufschiebende Wirkung (Suspensiveffekt); 2. Aufhebung des Gerichtszwangs und der Obrigkeit des unteren Richters; 3. Aufhebung der "rechtlichen Vermutung und Achtung der Urteil"149; 4. die ganze Sache wird vom unteren Richter an den oberen Richter gezogen und gesandt.
Im Wege der Appellation kann auch die Nichtigkeit eines Urteils geltend gemacht werden. Die Sache kommt auch in diesem Falle an den Oberrichter; die erstgenannten drei Wirkungen sind bei Nichtigkeit nicht gegeben, da nichts vorhanden ist, das einem Aufschub oder einer Aufhebung zugänglich wäre (GO X 4 am Ende).
GO X 5 erwähnt den Appellationseid150.
Im Gegensatz zum gemeinen Recht soll es im Fürstentum Bayern gestattet sein, von jedem Beiurteil und von allen Endurteilen an die fürstlichen [S. 380] Hofgerichte und in den Vitztumsämtern an Vitztum und Räte zu appellieren (GO X 6). Obwohl die gemeinen Rechte Schriftlichkeit für die Appellation verlangen, kann in Bayern die Appellation gen Hof von Bei- und Endurteilen schriftlich oder mündlich erfolgen (GO X 6, 2. Abs.; vgl. X 11)151.
Die Appellationen gegen Beiurteile, die von den fürstlichen Hofgerichten bzw. von Vitztum und Räten (in den Vitztumsämtern) erlassen wurden, an das Kaiserliche Kammergericht soll nach gemeinen geschriebenen Rechten erfolgen (GO X 7). Das Hofgericht soll über die Zulässigkeit der Appellation an das Kaiserliche Kammergericht entscheiden. Diese Appellation muß schriftlich erfolgen. Eine Appellation an das RKG gegen Bei- und Endurteile ist nur zulässig, wenn der Streitwert mehr als 100 Gulden beträgt (GO X 9)152.
Wenn jemand an das Kaiserliche Kammergericht appelliert, soll der Richter a quo dem Appellanten eine Frist von drei Monaten setzen, binnen welcher er nachzuweisen hat, daß er die Appellation beim Kammergericht anhängig gemacht macht (GO X 13; vgl. Ldr. Ref. XII 10).
GO X 14 betrifft die Apostelbriefe ("litterae dimissoriae")153; es werden fünf Arten unterschieden154.
GO XI behandelt die Frage der "Neuerungen" ("New fürnemen", Attentata)155 "in hangender Appellation"156; unter "Neuerungen" sind Handlungen zu verstehen, die die Gegenpartei oder der Richter trotz der anhängigen Appellation zum Schaden des Streitgegenstandes oder zum Nachteil der appellierenden Partei vornehmen157.
Wenn eine Partei "in hangenden Rechten oder appellation" irgendeine [S. 381] "Neuerung" (Attentat) zum Nachteil der Gegenpartei vornimmt, so kann diese eine artikulierte Attentatsklage vor dem fürstlichen Hofgericht mit dem Begehren einbringen, solche Neuerung abzustellen (GO XI 3). Bis zur Entscheidung über die Attentatsklage soll in der Hauptsache Stillstand angeordnet werden158.
GO XI 4 behandelt die Fälle, in denen "die appellation für desert, verlegen und gevallen gehalten und erkennt mögen werden". Es werden die gemeinrechtlichen Fälle des Desertwerdens der Appellation angeführt159, insbesondere die Versäumung von Fristen (Fatalien)160.
GO XII behandelt die Prozeßkosten ("Von Mässigung der Gerichtzschäden"; vgl. Ldr. Ref. XIII), GO XIII die Vollziehung und Handhabung der Urteile.
Obwohl die Bayerische Ldr.Ref. von 1518 und die Gerichtsordnung von 1520 gleichzeitig bearbeitet und Bestimmungen aus den Entwürfen zur GO in die Ldr. Ref. übernommen wurden161, sind deutliche Unterschiede zwischen beiden Werken festzustellen. Die GO ist wesentlich eingehender als der prozessuale Teil der Ldr. Ref., weitaus stärker vom römisch-kanonischen Recht durchdrungen. Der Einfluß der RKGO von 1500 ist in der GO deutlich sichtbar162. Das Verfahren der GO mit artikulierter Klage, Schriftlichkeit, Kriegsbefestigung, Beweisverfahren durch Kommissare, schriftlichem Urteil, Appellation und Nullitätsbeschwerde ist eindeutig als römisch-gemeinrechtlich zu bezeichnen163. Besonders ausgeprägt ist der gemeinrechtliche Charakter im Beweis- und im Appellationsverfahren164. Erich Denk hat in seiner Münchener Dissertation165 für das Recht der Appellation im einzelnen nachgewiesen, daß die GO 1520 weitgehend auf dem Entwurf des herzoglichen Rats und Ordinarius für kanonisches Recht an der Universität Ingolstadt Hieronymus de Croaria aus dem Jahre 1514 [S. 382]beruht. Gerade die Appellationsbestimmungen sind sehr stark vom kanonischen Recht (Tancredus, Durantis, Johannes Petrus de Ferrariis) beeinflußt, daneben von den zeitlich vorausgegangenen Reichskammergerichtsordnungen, der Wormser und der Nürnberger Stadtrechtsreformation. An der Abfassung des GO-Entwurfs 1516/17 war der herzogliche Rat Augustin Kölner entscheidend beteiligt, dem das Werk den stärkeren Bezug auf die Praxis verdankt.
Bemerkenswert ist, daß dieses romanistisch-kanonistisch geprägte Verfahren der GO vor sämtlichen bayerischen Gerichten, also auch von den Untergerichten, Anwendung zu finden hatte (siehe oben bei Anm. 25); in Oberbayern gingen im Konfliktsfall allerdings die Bestimmungen der Ldr. Ref. vor. Wieweit sich dieses romanistische Verfahren auch in den Untergerichten tatsächlich durchsetzen konnte, bedarf noch spezieller Untersuchungen166.
Auch nach der GO von 1520 galt das römisch-gemeine Recht nur subsidiär (vgl. oben bei Anm. 58). Es wird mehrfach betont, daß das gute alte Herkommen, die Landsgebräuche und guten Gewohnheiten durch die geschriebenen Rechte nicht aufgehoben, sondern für Recht gehalten werden (GO IX 5, letzter Abs. u. IX 9, 8. Abs.; siehe oben bei Anm. 130 u. 139)167. Gewohnheiten müssen allerdings vor Gericht bewiesen werden (oben bei Anm. 108)168.